Titel: | Zuschriften an die Redaktion. |
Fundstelle: | Band 329, Jahrgang 1914, S. 545 |
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Zuschriften an die
Redaktion.
(Ohne Verantwortung der Redaktion.)
Zuschriften an die Redaktion.
Zur Theorie der
Riementriebe.
In Heft 18 dieser Zeitschrift macht Herr Professor Skutsch
in seinem Aufsatz über „Reibung von Leder auf Eisen“ S. 275 eine mich
betreffende Bemerkung, die ich nicht unerwidert lassen kann. Herr Skutsch spricht von einem „Tiefstand der
Riemenforschung“ in den letzten 20 Jahren und einer damit in Zusammenhang
stehenden „phantastischen Literatur“, für die er als Beispiel folgendes
anführt:
„Aus dem unbefangenen Bekenntnis des tonangebenden Händlers, daß er
seinerseits keinen Grund einsehe, warum man mit der Riemengeschwindigkeit nicht
auf 500 m/Sek. heraufgehen solle, ist in einem von der Göttinger Akademie der
Wissenschaften herausgegebenen Sammelwerk bereits die Behauptung geworden, daß
die durch einen Riemen übertragbare Leistung.... bei gelegentlichen Versuchen
mit Geschwindigkeiten bis zu 500 m/Sek. auch noch nicht Null wurde.“
Die von Herrn Skutsch unter Anführungsstriche gesetzten
Worte sind, wie er auch angibt, meinem Referat in der „Enzyklopädie der mathematischen
Wissenschaften“ Bd. IV, 10, Dynamische Probleme der Maschinentechnik,
entnommen (abgeschlossen im Juli 1911, erschienen November 1911). Als Belegstelle
für das „unbefangene Bekenntnis“ des Händlers zitiert Herr Skutsch
„Mitteilungen des Verb der Treibriemenfabrikanten“ vom Jahre 1912.
Die Darlegung des Herrn Skutsch entspricht nicht dem
Sachverhalt. Tatsächlich enthält mein Referat im Anschluß an die
Besprechung der Grashofschen Theorie, nach der die
höchstzulässige Geschwindigkeit des Riemens etwa 50 m/Sek. beträgt, einen Hinweis
darauf, daß neuere Erfahrungsergebnisse dem entgegenstehen und somit eine Revision
der Theorie erfordern. Als Beleg hierfür sind vor allem die Veröffentlichungen Kammerers angeführt und dann findet sich zu dem
„gelegentlichen Versuch bis 500 m/Sek.“ das Zitat: „Gehrekens, Zeitschrift des Vereines deutscher
Ingenieure 1908, p. 1443“. Dort steht etwas ganz anderes als das
„unbefangene Bekenntnis“, das Herr Skutsch als
angebliche Grundlage meiner Aeußerung heranzieht. Es heißt hier nämlich unter
wörtlicher Anführung der Schlußworte eines Vortrages von Gehrekens im Verein Deutscher Ingenieure:
„Heute sind für Riemengeschwindigkeit 60 m/Sek. keine Grenze mehr. Riemenscheiben sind mit 500 m/Sek. gelaufen. Brown, Boveri
& Co. haben 375 m/Sek. erreicht, Schuckert läßt viele Schwungräder mit 100 m/Sek. kreisen...“. Herr Skutsch mag seine guten Gründe haben, um an der
Richtigkeit der Gehrcken sehen Behauptung zu zweifeln;
dies gibt ihm aber kein Recht, meine ausdrücklich auf
diese Behauptung gestützte Bemerkung als Produkt „phantastischer Literatur“
zu bezeichnen.
Sachlich möchte ich noch hinzufügen, daß m. E. wohl die Angaben von Gehrckens, Kammerer u.a. im einzelnen noch einer
Nachprüfung bedürfen, daß aber an dem wesentlichen Widerspruch zwischen der
klassischen Theorie und den neueren Erfahrungs-Ergebnissen nicht mehr gezweifelt
werden kann. Näheres hierüber vgl. in meinem angeführten Referat.
Straßburg, 15. Juli 1914.
Prof. v. Mises.
Erwiderung.
Die Geschichte eines Irrtums zu schreiben, ist freilich nicht leicht. Denn
Verirrungen haben, ehe sie an die Oeffentlichkeit treten, schon eine lange
Inkubation hinter sich, und da sie während dieser Zeit nicht so geheim gehalten zu
werden pflegen, wie keimende Wahrheiten, so können sie schon lange, bevor sie
gedruckt erscheinen, ansteckend wirken. Ohne die bestimmte Erklärung des Herrn von Mises, daß sein Referat von den in meinem Aufsatz
erwähnten, 1912 gedruckten, aber ins Jahr 1911 zurückreichenden Auslassungen des
Herrn Gehrckens unberührt geblieben ist, war also die
Sachlage m. E. keineswegs ganz durchsichtig.
Durch die vorstehende Zuschrift ist sie ja nun freilich geklärt, aber doch wohl
kaum zu gunsten des Herrn von Mises. Denn danach hat er
die Bemerkung eines Riemenfabrikanten, daß Riemen scheiben schon mit 500 m/Sek. gelaufen seien – die ernsthafte technische
Literatur weiß nur von 148 m/Sek. bei einem Probelauf zu berichten – nicht nur
unbedenklich als Tatsache weitergegeben, sondern sie seinerseits noch dahin ergänzt,
daß auf diesen – nur in der Phantasie des Herrn Gehrckens
vorhandenen! – Riemenscheiben auch Riemen gelaufen und sogar unter Belastung
gelaufen seien.
Wenn es wirklich unter solchen Umständen nötig ist, meine Worte von einer
phantastischen Literatur noch besonders zu rechtfertigen, so brauche ich wohl nur
die Tatsachen sprechen zu lassen.
Eine Mitteilung von Herrn Gehrckens über einen Riemen mit
angeblich 118 m/Sek., die Herr Stephan im vorigen
Jahrgange d. Z. in Heft 19 wiedergibt, ist inzwischen von den Herren Stephan und Heucken gründlich
nachgeprüft worden, und es hat sich ergeben, daß es sich dabei überhaupt nicht um
einen Lederriemen handelt. Somit dürfte nach einem hübsehen Bild, das Herr Gehrckens kürzlich für den Wettstreit um die höchste
Riemengeschwindigkeit gebrauchte, das „braune Band“ zurzeit in den Händen der
Fabrik für Idealleder A.-G. in Wiltz sein, die nach einer mir gemachten Mitteilung
einen etwa 30 kg/cm2 übertragenden Lederriemen mit
78 m/Sek. seit einem halben Jahr in Betrieb hat. Aber dieser schöne Erfolg wird nach
Angabe der Firma durch ein neues Gerbverfahren erreicht, so daß zunächst Grashofs Materialziffern einer Aenderung bedürfen, ehe
man von Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung seiner Theorie mit den
Erfahrungsergebnissen reden kann. Grashof hatte die von
Herrn von Mises erwähnte Höchstgrenze von 50 m/Sek. unter
Zugrundelegung einer Beanspruchung von etwa 22 kg/cm2 berechnet, die schon damals gering erscheinen konnte, weil sie eine
16-fache Bruchsicherheit bedeutete, während man sich doch z.B. bei den Lastriemen
der Aufzüge von jeher mit einer 9-fachen Sicherheit begnügte.
Ich stelle somit fest:
1. daß die Geschwindigkeit von Lederriemen bis heute 100
m/Sek., d.h. also ein Fünftel der Angabe des Herrn von
Mises nicht überschritten hat;
2. daß die Geschwindigkeit von 100 m/Sek. auch nur infolge
neuer Gerbverfahren erreichbar wurde;
3. daß die Grenze von 50 m/Sek. bei Grashof aus einer – wie ihm selbst nicht zweifelhaft gewesen sein wird
– sehr vorsichtig angenommenen Beanspruchung berechnet war und daß man
infolgedessen aus der heut allgemein als zulässig angesehenen Steigerung dieser
Zahl nicht auf eine Unzulänglichkeit der Theorie schließen kann;
4. daß also hinsichtlich der erreichten Riemengeschwindigkeiten
niemals ein Widerspruch zwischen Theorie und Erfahrung bestanden hat.
Dortmund, den 30. Juli 1914.
R. Skutsch.