Titel: | Die Entwicklung der technischen Physik in den letzten 20 Jahren. |
Autor: | W. Hort |
Fundstelle: | Band 331, Jahrgang 1916, S. 279 |
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Die Entwicklung der technischen Physik in den
letzten 20 Jahren.
Von Ingenieur Dr. W. Hort, Berlin-Siemensstadt.
(Fortsetzung von S. 247 d. Bd.)
HORT: Die Entwicklung der technischen Physik in den letzten 20
Jahren.
II. Technische
Mechanik.
Der Entwicklungzustand der technischen Mechanik am Anfange des letzten Viertels des
19. Jahrhunderts ist dadurch gekennzeichnet, daß ihre beiden Zweige, die Statik und
Dynamik, sich in sehr verschiedenem Maße der Wertschätzung der Ingenieurkreise
erfreuten. Beide Zweige waren weit ausgebildet, aber nur die Statik, insbesondere
deren graphische Ausgestaltung, war Allgemeingut des Kreises vor allem der
Bauingenieure geworden. Die Allgemeinheit der Maschineningenieure, für welche die
Dynamik in erster Linie wichtig ist, sah dagegen noch keinen Anlaß, sich die
Ergebnisse der Mechanik, die damals vorlagen, dienstbar zu machen. Von diesen
Ergebnissen fand eigentlich nur das auf RadingerRadinger. Ueber
Dampfmaschinen mit hoher Kolbengeschwindigkeit. 1870
zurückgehende Verfahren der Schwungradberechnung breitere Anwendung, während die
Methode der kleinen Schwingungen noch wenig Beachtung
fand, obwohl ihre Wichtigkeit für die Bewegungsstabilität
der SchienenfahrzeugeLechatelier. Etudes sur la stabilité des machines locomotives en
mouvement. Paris 1852.Yvon Villarceau.
Theorie de la stabilité des machines locomotives en mouvement. Paris
1852.Resal. Notice sur la stabilité de
machines locomotives Ann. des Mines. 3. 1853.Redtenbacher. Gesetze des Lokomotivbaues. Mannheim 1865.Zeuner. Ueber das Wanken der Lokomotive. Progr.
d. eidgen. polyt. Schule. Zürich 1891.Fliegner. Einfluß der Schienenstöße auf die gaukelnden Bewegungen
der Lokomotiven. Viertelj.-Schr. d. naturf. Ges. Zürich 1897.
durch die Arbeiten von Redtenbacher und Zeuner und ihre Vorgänger, wie ihre Bedeutung für die
Regulierung der KraftmaschinenAiry. Mem. of the Astr. Soc. of London. 1851
(XX).Lüders. Zeitschr. d. V. d. Ing. 1861
S. 60.Maxwell. Proc. of the R. Soc. of
London 1865 XVI.Rolland. Journ. de l'ec.
polytechnique 1870.Kargl Zivilingenieur
1871 S. 266.Worms de Romilly. Annales des
Mines 1872 I S. 36.Wischnegradsky.
Zivilingenieur 1877 S. 95. durch Wischnegradsky
und seine Vorgänger längst erwiesen war Charakteristisch hierfür ist die
Auflage 1879 von Weisbachs Ingenieur- und
Maschinenmechanik, in welcher das Radingersche Verfahren
sehr eingehende Behandlung findet, während die Untersuchung von Wischnegradsky nur kurz zitiert wird.
Diese zum Teil noch verborgenen Keime einer Weiterentwicklung der technischen Dynamik
drangen gegen Ende des 19. und im Anfang des 20. Jahrhunderts mächtig empor.
Einerseits gab die Lösung der Frage des Massenausgleichs der SchiffsmaschineTaylor. The canses
of vibrations of screwsteamers. J. Am. Soc. of Nav. Eng. 3. 1891.Yarrow. Eng. Patent v. 17. Nov. 1892.Schlick. Transactions of the Naval Architects. Z.
d. V. d. I. 1894. – Deutsches Patent vom 10. Nov. 1893. durch Schlick Anlaß, das Interesse an rein dynamischen
Problemen in den Vordergrund zu rücken. Dies Interesse gab sich zunächst in einem
lebhaften Eingreifen der deutschen Professoren der Technik in den Schlickschen Patentstreit kund, verdichtete sich dann
aber auch zu einer exakten Darstellung der Dynamik der Mehrkurbelmaschine und zur
Ausgestaltung der Schlickschen ErgebnisseH. Lorenz, Dynamik
der Kurbelgetriebe. 1901.Schubert. Theorie
des Schlickschen Massenausgleichs. 1901. – Zur Theorie des Schlickschen
Problems. Mitt. math. Ges. Hamburg. Bd. 3. durch Schubert und H. Lorenz; bald
fand die neue Theorie auch Eingang in die Lehrbücher der technischen Mechanik,Technische Mechanik von Foeppl und von Lorenz. und
für den Unterricht wurden
DemonstrationsmodellcZ. d. V. d. I. 1894
S. 1091; 1909 S. 1301. geschaffen. Ganz neuerdings greifen
weitere Erörterungen Platz bei der Untersuchung der Kurbelgetriebe raschfahrender
elektrischer Lokomotiven,Hoest. Bull. Int. Eisenbahnkongr. 1912 S. 889.Buchli. E. T. Z. (1914) 612, 643.Kummer. Schweiz. Bauz. (1914) Bd. 63, 64. – E. T.
Z. (1915) 311.Wichert. Elektr. Kraftbetr.
und Bahnen (1914) 325. – E. T. Z. (1915) 15, 25. die einerseits
auch im Zusammenhange stehen mit der älteren oben erwähnten Erforschung der
Stabilität der Schienenfahrzeuge, andererseits aber die Formänderung der elastischen
Systemteile und die Ungenauigkeit der Ausfahrung (fehlerhafte Stangenlängen und
Lagerspiel) in den Kreis der dynamischen Betrachtung ziehen, um die merkwürdigen
Schüttelerscheinungen der Schnellbahnlokomotiven zu erklären.
Aus der Dynamik der Kolbenmaschinen beziehungsweise der Kurbelgetriebe erschließt
sich weiter das wichtige Gebiet der erzwungenen
Schwingungen und der Resonanzerscheinungen.
Zuerst wohl aufgetreten in den Untersuchungen RedtenbachersSiehe Note
16. über die Bewegung der Lokomotive, haben diese Fragen eine
weittragende Anwendung auf die Bewegung der Schraubenwellen und Propeller gefunden
durch Frahm,Frahm. Z. d. V. d. I. 1902 S. 779,
886. und zur Definition der kritischen TorsionsschwingungszahlSiehe auch H. Lorenz
Note 19. einer Welle mit zwei umlaufenden Massen geführt.
Eine wesentliche Rolle bei diesen Untersuchungen spielt die Entwicklung einer
Funktion (im besonderen des arbeitenden Drehmoments der Kolbenmaschine) in eine Fouriersche Reihe.Fourier. Bulletin
des sciences pour la société philomatique 1807 T. I S. 112.Dirichlet. Journal f. Math. Bd. 4 S. 158.
(Konvergenzbeweis.)Riemann. Ges. Werke
(1876) S. 213. Damit hatte eine schon fast 75 Jahre alte
mathematische Methode für die ausführende Technik umfassende Bedeutung gewonnen,
deren Wirken wir auch in den übrigen Zweigen der technischen Physik erkennen
werden.
Die Untersuchung von Frahm ist weiterhin insofern
bedeutungsvoll, als sie von der Dynamik starrer Körper eine Brücke schlägt zu der
Bewegungslehre der elastischen Körper, und ein Beispiel dafür bietet, wie die
Ergebnisse der Mechanik Anwendung finden können auf den verschiedenen Gebieten der
Technik.
So greift die Theorie der erzwungenen Schwingungen und der Resonanzerscheinungen auch
über in die Frage des Parallelarbeitens der Wechselstrommaschinen. Schon von Benischke, Görges, Rosenberg als Resonanzproblem erkannt,
findet diese Frage ihre scharfe theoretische Lösung durch Sommerfeld.Benischke. Der Parallelbetrieb der Wechselstrommaschinen.
1902.Görges. E. T. Z. 1900 S. 192, 1902 S.
1053, 1903 S 378, 676, 1023.Rosenberg. E.
T. Z. 1902 S. 425, 1903 S. 761, 857, 1024.Sommerfeld. E. T. Z. 1904 H. 14 und 15.
Die Methode der kleinen Schwingungen,Die
Methode der kleinen Schwingungen geht auf Lagrange zurück (Mécanique analytique) und fand ihre weitere
Ausgestaltung durch Routh (A treatise on the
stability of a given state of motion, London 1877). Eingehende Darstellung
findet die Methode in der Dynamik der Systeme starrer Körper des gleichen
Verfassers. Deutsch von A. Schepp.
1878. die sich bereits in der Regulatortheorie fruchtbar erwiesen
hatte, ist so recht eine Ingenieurmethode. Sie lehrt, wie man bei einem verwickelten
Bewegungsproblem sicher zunächst zu einer vorläufigen Annäherungslösung gelangt,
wenn man voraussetzt, daß die gesuchte Bewegung nur wenig von der zulässigen
abweicht. Diese Voraussetzung muß aber bei allen technisch verwendbaren Bewegungen
gemacht werden können, weil eine Bewegung, die erheblich von der gewünschten oder
zulässigen abweicht, unbrauchbar ist. Das Interessante ist, daß die Methode der
kleinen Schwingungen sofort die Bedingungen angibt, welche erfüllt sein müssen,
damit die gesuchte Bewegung innerhalb vorgeschriebener Grenzen bleibt. So gibt die
Methode ohne weiteres verwendbare Konstruktionsdaten an die Hand. Ihre Regeln führen
auf die sogenannten linearen Differentialgleichungen mit konstanten
Koeffizienten,Im Taschenbuch
„Hütte“ kann die Gestalt einer solchen Differentialgleichung
nachgesehen werden. Auch über Determinanten findet sich in der
„Hütte“ das Nötigste. bei deren Integration die
obengenannten Konstruktionsdaten als Stabilitätsbedingungen in
DeterminantenformHurwitz. Math. Annalen Bd. 46 S. 273. erscheinen.
Erneute Anwendung erfuhr diese Methode in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts bei
der Einführung des Kreisels zur Stabilisierung von Schiffen im Seegange durch Schlick.Schlick. Z. d. V. d. Ing. 1906 S. 1466,
1929.
Die mathematische Begründung und Ausgestaltung der Schlickschen Vorschläge wurde geleistet durch H. LorenzH. Lorenz. Physik. Zeitschrift 5. Jahrg.
1904. und Föppl.Föppl. Z. d. V. d.
I. 1904. Damit war die Wichtigkeit der Kreisellehre für die
technische Wissenschaft erwiesen, welcher Wendung die schon 1897 begonnene und
kürzlich vollendete Herausgabe eines umfassenden Handbuchs der Kreiseltheorie durch
Klein und SommerfeldKlein und Sommerfeld. Ueber die Theorie des Kreisels. 4
Hefte 1897–1908. in glücklichster Weise entgegenkam. In diesem
Werke finden auch weitere technische Anwendungen des Kreisels (Torpedosteuerungen,
Einschienenschnellbahn usw.) und störende Wirkungen von Kreiseln (Radsätze
schnellfahrender Fahrzeuge usw.) Erörterung. Daß wiederum die LehrbücherFöppl. Technische
Mechanik. 6 Bde. verschiedener Auflage. der technischen Mechanik
von dem neu erschlossenen Gebiete sofort Besitz ergriffen haben, sei nur nebenbei
erwähnt, besonders aber hervorgehoben, daß die Kreiseldynamik im Hochschulunterricht
nunmehr auch an
interessanten und zweckmäßigen VersuchsmodellenEugen Meyer, Z. d. V. d. I. 1909 und 58.
Mitteilung der Firma Max Kohl A.-G. in Chemnitz. gelehrt
wird.
Den neuesten Erfolg feiert die Kreiselforschung im SchiffskompaßE. T. Z. 1911 H. 35, 36. von Anschütz, der eine schwierige Frage der nautischen
Technik namentlich auf Kriegsschiffen mit einem Schlage löst.
Die Regulatortheorie, die mit den Anlaß zur Einführung der Methode der kleinen
Schwingungen gegeben hatte, fand zu der Zeit, von der wir sprachen, ebenfalls ihre
Weiterbildung, und zwar durch Stodola,Schweiz. Bauzeitung XXII Nr. 17–20. XXIII Nr.
17, 18. der 1893 und 1894 die Frage der Regulierung der Turbinen
durch sogenannte Servomotoren in Angriff nahm. In ähnlicher Richtung und sich einer
besonders instruktiven graphodynamischen Methode bedienend, arbeitete der Franzose
Léaute.Mémoire
sur les oscillations à longues périodes etc. J. d. l'École polyt.
1885.
Diese und die sich daran anschließenden Veröffentlichungen faßte BauersfeldBauersfeld. Die automatische Regulierung der
Turbinen. 1905. in einer lesenswerten Monographie zusammen,
während die Geschichte und Theorie des gewöhnlichen und des auf Werner SiemensD. p.
J. Bd. 98 S. 81. zurückgehenden TrägheitsregulatorsStodola. Das
Siemenssche Regulierprinzip und die amerikanischen Inertieregulatoren. Z. d.
V. d. I. 1899 S. 506, 673. von anderer Seite 1904 kurz
dargestelltW. Hort. Die Entwicklung des Problems der stetigen
Kraftmaschinenregelung nebst einem Versuch der Theorie unstetiger
Reglungsvorgänge. Zeitschr. für Math. und Phys. 1904. wurde.
Erneuten Anstoß zur Anwendung der Ergebnisse der Lehre von der Bewegungsstabilität
und der Resonanz ergab die um 1900 lebhaft einsetzende Entwicklung der
Dampfturbinen.
Schon RankineJ. W.
Rankine. Machinery and millwork. London
1869. hatte sich damit beschäftigt, das Schleudern raschlaufender
Wellen zu erklären. Dann bot in den neunziger Jahren das Laval-TurbinenproblemG. de Laval zeigte 1883, daß nach Ueberschreitung
einer bestimmten Umdrehungszahl die Welle wieder ruhig läuft. zu
weiteren Untersuchungen von GreenhillProc. Inst. Mec. Eng. 1883.
DunkerleyPhil. Trans.
1895. und FöpplCivilingenieur. 1895. Anlaß. Von
diesen Forschern wurde die Bedeutung der kritischen Biegungsschwingungszahl einer
Welle mit einer oder mehreren darauf befestigten Massen für den stabilen Lauf
derselben aufs eingehendste theoretisch untersucht.
StodolaStodola. Die Dampfturbinen. 2 A. 1904.
betrachtete 1903 auch lange glatte Wellen ohne aufgesetzte Massen und fand, daß bei
diesen infolge der Durchbiegung unter dem Eigengewicht eine ganze Reihe von
kritischen Schwingungszahlen besteht, die er „zweiter Art“ nannte. Auch
stellte er durch Versuch die Möglichkeit von Resonanz zwischen
WellenrotationStodola a. a. O.Sommerfeld. Z.
d. V. d. I. 1902 S. 391. und Fundamentschwingung fest. Mit der
weiter fortschreitenden Entwicklung fanden diese neuen Gesichtspunkte besonders
weite Verbreitung in der Lehrbuchliteratur und gaben Anlaß zur Schaffung von
Versuchsanlagen in den Hochschullaboratorien.
Die mathematischen Ansätze, die allen oben angeführten Fällen zu Grunde liegen,
finden sich, so verschieden auch äußerlich die Aufgabestellungen sein mögen, als
Differentialgleichungen,Einige Lehrbücher der
Differentialgleichungen:a) Forsyth.
Lehrbuch der Differentialgleichungen. 2. A. v. Jakobsthal. 1912. Enthält die Theorie der gewöhnlichen und
partiellen Differentialgleichungen. Sehr allgemein verwendbares
Nachschlagewerk.b) Horn. Gewöhnliche
Differentialgl. beliebiger Ordnung. (Sammlung Schubert.) 1905. Darstellung
auf funktionentheoretischer Grundlage mit vielen Anwendungen.c) Riemann-Weber. Die partiellen Differentialgl. der
mathematischen Physik. 1900. Sehr bekanntes, ausschließlich den Zwecken der
Anwendung gewidmetes Lehrbuch.d) Horn.
Einführung in die Theorie der partiellen Differentialgleichungen. (Sammlung
Schubert) 1910. Gegenüber c) mehr der Theorie gewidmet. deren
Integration das der weiteren technischen Ueberlegung dienende Ergebnis liefert.
Den Differentialgleichungen stehen mathematisch die DifferenzengleichungenWallenberg u. Guldberg. Theorie der linearen
Differenzengleichungen. 1911.W. Hort. Die
Differentialgleichungen des Ingenieurs. 1914.Differenzengleichungen
kommen auch in der Hütte vor bei der Biegung des durchlaufenden Balkens auf
mehreren Stützen. in gewissem Sinne gegenüber. Werden erstere bei
stetigen Vorgängen auftreten, so kleiden sich unstetige Vorgänge in das Gewand der
letzteren.
Ein in diesem Sinne unstetiger Vorgang ist die Bewegung unserer heutigen
Kolbenmaschinen infolge der bei jedem Hube immer von neuem unterbrochenen und wieder
eingeleiteten Energiezufuhr. Diese Unterbrechungen beweisen, daß der Regulator die
Energie nicht in jedem Augenblick (stetig) „dosiert“, sondern in jedem
Steuerungsabschlußpunkte für den ganzen darauffolgenden Hub festlegt. In erster
Annäherung freilich kann man von diesem Umstände absehen, wie es in der Tat bei der
Wischnegradskischen Regulatortheorie geschieht,
welche die Energiezufuhr und den Regulatoreingriff bei der Dampfmaschine als stetig
voraussetzt. Die Ergebnisse Wischnegradskis lassen nun
eine Frage unbeantwortet, warum es nämlich Dampfmaschinen gibt, die ohne Oelbremse
am Regulator stabil, wenn auch vielleicht nicht genügend ruhig, laufen. Diese Frage
kann beantwortet werden, wenn man die Art der Regulatoreinwirkung auf die
Energiezufuhr der Dampfmaschine berücksichtigt, wodurch man auf eine
Differenzengleichung geführt wird, deren Integration oder Auflösung die Sätze Wischnegradskis über den günstigen Einfluß der Oelbremse
bestätigt, darüber hinaus aber die Bedingungen angibt, unter welchen eine Dampfmaschine
reibungslos und ohne Oelbremse stabil laufen kann.W. Hort. Siehe Note
42 und D. p. J. 1907 H. 22/23.
Mit der Einführung der Reibung ziehen wir ein weiteres Gebiet der technischen
Mechanik in den Kreis unserer Betrachtungen, auf das in besonderem Maße die Sommerfeldsche Kennzeichnung zutrifft. Dieses Gebiet ist
in besonders ausgedehntem Maße der Sicherstellung der experimentellen Grundlagen und
der Schaffung schärferer theoretischer Methoden teilhaftig geworden.
Textabbildung Bd. 331, S. 282
Abb. 1.
Es ist gut, zunächst eine Verständigung über den Begriff der Reibung herbeizuführen,
indem wir unter ihm die Widerstandskräfte zusammenfassen, die bei der Bewegung
fester Körper aufeinander auftreten. In Abb. 1 seien
die beiden Körper K1
und K2 in Berührung bei
A. Ihre gegenseitige Einwirkung kann dann in zwei
Kräfte und zwei Momente zusammengefaßt werden:
1. Eine Normalkraft N senkrecht
zur gemeinsamen Berührungsebene;
2. eine Reibungskraft R in der
gemeinsamen Berührungsebene;
3. das Moment M der rollenden
Reibung, dessen Achse in der Berührungsebene liegt;
4. das Moment L der drehenden oder
bohrenden Reibung, dessen Achse die Berührungsnormale ist.
Die Lehre von der Reibung befaßt sich nun von alters her mit der Frage, wie hängen
R, M, L von N ab. Seit
Leonardo da Vinci1452–1519. ist besonders die Reibung R als in erster Linie bei technischen Prozessen hervortretend, Gegenstand
der Forschung gewesen. Das Ergebnis dieser Forschung war die Schaffung und Erklärung
der Begriffe Reibung der Ruhe, Reibung der Bewegung,Amontons. Mém. de
l'acad. roy. des sc. 1699 S. 206. Reibungskoeffizient,Amontons.
ReibungswinkelParent. Hist de l'acad. roy. des sc. 1700 S. 145–150.Parent. Mém. de l'acad. roy des sc. 1704 S.
173–195. und vor allem die Aufstellung des Coulombschen Gesetzes.Schon bei Amontons. Coulombs Arbeiten sind zu finden in
Mém. des savants étrangers T. X (1785).
R = μN.
Das Gesetz besagt: Es gibt für zwei bestimmte Körper, die sich berühren, an der
Berührungsstelle einen von deren Beschaffenheit abhängigen Reibungskoeffizienten μ, der das Verhältnis von R : N festlegt. μ ist unabhängig von der Geschwindigkeit, mit der die Körper an der
Berührungsstelle gleiten und unabhängig von dem Flächendruck an der
Berührungsstelle. Es ist anzunehmen, daß Coulomb
selbst das Gesetz nicht als allgemein gültig ansah, denn an einer Stelle schreibt
er: Le frottement augmente avec la vitesse de la manière la plus sensible.
Trotz aller schon frühzeitig gegen das Gesetz aufgetauchten Bedenken,Muschenbrock.
Introd. ad philos. nat. T. I cap. 9 1762. die man durch
wiederholt angestellte VersucheMorin. Nouvelles experiences sur le frottement,
Paris 1832 bis 35. zu beseitigen trachtete, wurde in einem
Gutachten der Pariser Akademie die Coulombsche Formel (auf Grund von Versuchen MorinsSiehe Note
59. durch Poisson, Arago und Navier erhoben zur „loi exactement conforme aux effets
naturels et non plus une règle approchée pour les arts“. Seitdem ist das Coulombsche Gesetz die Grundlage der
Maschinenkonstruktionen gewesen; auch heute noch herrscht es in unserer Literatur
über die Maschinenelemente und mit Recht. Innerhalb bestimmter Grenzen (die wir hier
nicht näher feststellen wollen) kann es mit Vertrauen als gute Annäherung auch
weiter benutzt werden.
Textabbildung Bd. 331, S. 282
Abb. 2.
Die Zweifel an der Allgemeingültigkeit des Coulombschen
Gesetzes ließen sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr beschwichtigen.Poiret u. Bachet. C. R. Bd. 46 S. 802 (1858).Galton. Inst. of Mec.-Eng. Proc. 1878,
1879. Sie wurden besonders laut im Zusammenhange mit der Frage der
Lagerreibung gegen Ende des Jahrhunderts, als mit der Steigerung der
Umlaufgeschwindigkeiten der Wellen und ihrer Belastung ein neues Größengebiet
betreten werden mußte.
Der Erforschung der Frage widmeten sich ausgedehnte Versuchsreihen von Stribeck,Stribeck. Die wesentlichen Eigenschaften der
Gleit- und Rollenlager. Z. d. V. d. I. 1902.
Lasche,Lasche. Die Reibungsverhältnisse in Lagern mit
hoher Umfangsgeschwindigkeit. Z. d. V. d. I. 1902.
Heimann,Heimann. Z. d. V. d. I. 1905. deren
Ergebnisse hinsichtlich des allgemeinen Verlaufes des Reibungskoeffizienten das
Schaubild (Abb. 2) andeuten möge. Nach dem Coulombschen Gesetz müßte statt der verschiedenen Kurven
eine zur x-Achse parallele Gerade gefunden werden.
Die Fortschritte der experimentellen Forschung boten nun Anlaß, den Versuch zur
theoretischen Analysierung der offenbar sehr verwickelten Erscheinung zu machen,
nachdem der einfache, einem Naturgesetz ähnliche Ansatz Coulombs sich als ungültig erwiesen hatte. Besondere theoretische Bedenken
mußten sich vor allem dagegen erheben, daß das Coulombsche Gesetz von der Wirkung des Schmiermittels zwischen den sich berührenden Körpern nichts weiß; man kann
das Gesetz streng nur auf die sogenannte trockene Reibung anwenden.
Textabbildung Bd. 331, S. 283
Abb. 3.
Die Berücksichtigung der Anwesenheit einer Schmierflüssigkeit führte nun zuerst PetroffPetroff. Neue Theorie der Reibung. Deutsch von
Wurzel. 1887. dazu, die Lehre von
der inneren Reibung zäher Flüssigkeiten auf die Frage der Lagerreibung anzuwenden.
Diese Lehre sagt folgendes: Bewegen sich zwei Flüssigkeitsteile A und B (Abb. 3) mit verschiedenen Geschwindigkeiten V1 und V2 längs einer
trennenden Ebene ab, so übt die schnellere (A) auf die langsamere (B)
eine in der Bewegungsrichtung liegende Reibungskraft R
aus, die für jedes cm2 der Trennungsfläche den
Wert hat:
R=x\,(V_1-V_2).
Ist der Geschwindigkeitsunterschied sehr klein = dV, so muß der Ansatz lauten:
R=x\,\frac{dV}{dn}, wo \frac{dV}{dn} das
Quergefälle der Geschwindigkeit, x die Zähigkeitsziffer
oder innere Reibung der Flüssigkeit bedeuten. Mit Einführung dieser Beziehung wird
die Lagerreibung zu einem hydrodynamischen Problem, dessen Erörterung anschließend
an Petroff durch Osborne-Regnolds,Lond. Phil. Trans.
Vol. 16. P. I (1876).
Sommerfeld,Zeitschr. f. Math. und Phys. 1704.
GümbelMonatsbl.
Berl. Bez.-V. d. Ing. 1914 Nr. 5 und 6. dahin führte, daß heute
die physikalische Natur der Kurven der Abb. 2 als im
wesentlichen auch theoretisch aufgeklärt gelten kann. Wir wissen, wie man diese
Kurven aus den Lagerabmessungen und der Lagerbelastung, sowie der inneren
Reibung x (die mittels der PoisseuilleschenFußnotentext zu diesem Anmerkungszeichen fehlt im Text.
Strömung durch ein Kapillarrohr bestimmt wird) aufbauen kann. Die wichtige hierin
liegende Erkenntnis, daß für die Beurteilung der mechanischen Eigenschaften eines
Oeles die Größe x (gegebenenfalls noch in ihrer
Abhängigkeit von der Temperatur) nebst dem spezifischen Gewicht allein maßgebend
ist, bricht sich allmählich BahnVgl. L. Ubbelohde. Zur Theorie der Reibung geschmierter
Maschinenteile. Z. f. Petroleum 1913. und wird für eine
einheitliche AuffassungDie teilweise noch
vorhandene Verschiedenheit der Auffassungen erhellt besonders aus der
Besprechung nach dem Vortrage von Gümbel, der
Note 68 zitiert ist. in einer so wichtigen maschinentechnischen
Frage Sorge tragen.
Die Coulombsche Reibung hat neuerdings weiter eine Rolle
gespielt bei der Frage der Energieübertragung mittels Ledertreibriemen. Bekanntlich
ist die Umfangskraft, die durch ein Riemengetriebe übertragen werden kann,
proportional mit eμα
– 1,Siehe z.B. Bach. Maschinenelemente 1901 S. 317.
wo α den Umspannungsbogen des Riemens auf der kleineren
Scheibe bedeutet.
Wenn nun μ eine Konstante wäre, so gäbe es keinen Anlaß,
der Größe eμα – 1
Aufmerksamkeit zu schenken. Es muß aber bedacht werden, daß μ beim Riementriebe keineswegs als Reibungskoeffizient der Ruhe betrachtet
werden kann, weil bei jedem Riementriebe infolge der Elastizität ein Gleiten des
Riemens auf den Scheiben stattfindet.
Untersucht man nun die Abhängigkeit von μ von der
Gleitgeschwindigkeit zwischen Leder und Eisen, so findet man, daß auch hier das Coulombsche Gesetz nicht gilt, daß vielmehr μ mit steigender Gleitgeschwindigkeit wächst, mit
fallender abnimmt, und zwar ergeben sich bei kleinen Gleitgeschwindigkeiten (1,5
cm/Sek.) sehr kleine Reibungsziffern (0,12),Das
vorhandene Versuchsmaterial wird kritisch besprochen von R. Skutsch. D. p. J. 1914. so daß man zu
dem Schlusse kommen kann, bei abwesender Gleitgeschwindigkeit würde die Reibung und
damit die Möglichkeit der Kraftübertragung durch den Riemen in Frage gestellt
werden. So viel läßt sich aber mit Sicherheit feststellen, daß die Gleitung im
Zusammenhange mit der Reibung das Lebenselement aller Kraftübertragungen mit Riemen
ist. Noch ist vieles Physikalische unaufgeklärt bei diesem Zusammenhange, deshalb
ist die neuerliche Beibringung weiterer Versuchsergebnisse durch R. SkutschVeröffentlicht a. a. O. Note 73. zu dieser wichtigen Frage
besonders zu begrüßen.
(Fortsetzung folgt.)