Titel: | Werner Siemens' Stellungnahme zu den technischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungszügen seiner Zeit. |
Autor: | W. Hort |
Fundstelle: | Band 331, Jahrgang 1916, S. 417 |
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Werner Siemens' Stellungnahme zu den technischen,
wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungszügen seiner Zeit.
Von Dr. W. Hort,
Berlin-Siemensstadt.
HORT: Werner Siemens' Stellungnahme zu den technischen,
wirtschaftlichen usw.
Wenn man die wissenschaftlichen und technischen Arbeiten von Werner Siemens studiert, so erkennt man, wie vielseitig
die Lebenstätigkeit dieses Mannes war und in wie mannigfacher Weise dieser in erster
Linie als Elektrotechniker bekannte Ingenieur zu Fragen Stellung genommen oder sich
auf Gebieten schaffend betätigt hat, die scheinbar abseits von der eigentlichen
Elektrotechnik liegen. Man erkennt auch, wie er seinen Grundsatz der
wissenschaftlichen Durchdringung technischer Probleme auf die verschiedensten Fragen
des allgemeinen Maschinenbaues anwendet, und wie seine Stellung als Schöpfer eines
großen industriellen Unternehmens ihn dahin führt, den auftauchenden sozialen Fragen
näher zu treten.
Von den 127 Titeln der beiden Bände, die seine wissenschaftlichen und technischen
ArbeitenIm Folgenden
abgekürzt mit W. u. T. A. bezeichnet. enthalten, beziehen sich,
abgesehen von den beiden patentrechtlichen Arbeiten, 23 auf Fragen, die außerhalb
der Elektrizitätswissenschaft oder ihrer Anwendung liegen.
Diese 23 Arbeiten verteilen sich auf eine Reihe von Gebieten, die im folgenden
aufgeführt seien:
1. Allgemeine Fragen der Naturforschung und wissenschaftlichen
Technik sowie der Sozialpolitik: 3 Arbeiten: Band II der W. u. T. A. Nr. 72, Nr.
3 und 4 des Anhanges zu Band II.
2. Technische Mechanik starrer Körper: 6 Arbeiten: Band II der
W. u. T. A. Nr. 2, 22, 23, 28, 43, 50, 67.
3. Hydro-Dynamik: 3 Arbeiten: Band 1 der W. u. T. A. Nr. 34, 70
und 74.
4. Aero-Dynamik und Meteorologie: 6 Arbeiten: Band I der W. u.
T. A. Nr. 16, 35 und 36, Band II Nr. 75, Nachtrag zu Band I in Band II Nr. 5 und
6.
5. Thermo-Dynamik: 1 Arbeit: Band I Nr. 1.
6. Optik: 2 Arbeiten: Band I Nr. 30, Band II Nr. 41.
7. Geophysik: 1 Arbeit: Band I Nr. 28.
Die Besprechung dieses Tätigkeitsgebietes gibt naturgemäß mancherlei Berührungspunkte
mit anderen in dieser Festnummer enthaltenen Würdigungen, weshalb wir uns
angelegen sein lassen, im nachstehenden nach Möglichkeit solche Züge der
Geistestätigkeit von Werner Siemens zu beleuchten, die in
jenen Aufsätzen nicht zur Sprache kommen.
In erster Linie bieten die drei Arbeiten allgemeiner Natur auch heute noch lebhaftes
Interesse dar.
Die vollen Titel lauten:
a) Votum, betreffend die Gründung eines Instituts für die
experimentelle Förderung der exakten Naturforschung und Präzisionstechnik.
1883.
b) Ueber die Bedeutung und die Ziele einer zu begründenden
physikalisch-technischen Reichsanstalt. 1884.
c) Das naturwissenschaftliche Zeitalter. 1886.
Die erst angeführte Arbeit ist Teil einer Denkschrift der vom preußischen Minister
des Innern im Jahre 1883 berufenen Kommission, die die Organisation eines
physikalisch-mechanischen Instituts beraten sollte.
Werner Siemens geht in seinem Beitrag zu den
Kommissionsberatungen aus von dem Gegensatz, der zwischen dem anerkanntermaßen
hochentwickelten deutschen wissenschaftlichen und technischen Unterrichtswesen und
dem Zustande der deutschen Industrie, die man damals als hinter der anderer Länder
zurückgeblieben ansehen mußte, besteht.
Der eine Schritt, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Förderung der
Industrie Deutschlands getan werden mußte, nämlich die Schöpfung eines zweckmäßigen
Patentgesetzes, hatte, nicht ohne erhebliche Anteilnahme Werner Siemens an den Vorverhandlungen zur Schaffung des Gesetzes, bis zu
den achtziger Jahren hin eine nicht zu verkennende günstige Wirkung auf die
Industrie-Entwicklung ausgeübt.
Es entstand nun die Aufgabe, noch weitere Maßnahmen zu treffen, die, nachdem im
Patentgesetz die mehr formale Grundlage der günstigen Entwicklung gefunden war, die
sachliche Basis der industriellen Entwicklung, die Werner
Siemens in den wissenschaftlichen Grundlagen der technischen Tätigkeit
erblickt, erweitern sollten.
Siemens erhebt in der Denkschrift die Forderung des
staatlichen Schutzes der wissenschaftlichen Forschung und die Forderung der Trennung
der Forschung vom Unterricht. Eines seiner wesentlichen Argumente bei der Begründung
dieser Forderungen ist der Hinweis auf die anderen Länder, die Deutschland auf dem
Wege der industriellen Entwicklung vorangegangen waren: England, Frankreich,
Amerika. Seine Darstellung der hiermit zusammengehenden Fragen ist angesichts der
Gedanken, die der Weltkrieg ausgelöst hat, so interessant, daß wir sie wörtlich
anführen.
„Hier hat England durch seinen in weiten Kreisen vorhandenen Reichtum und die
Vorliebe der Engländer für wissenschaftliche Beschäftigung ein entschiedenes
Uebergewicht erlangt. Wohlhabende Engländer haben Privatlaboratorien in großer
Zahl errichtet, in welchen sie selbst eifrig arbeiten und tüchtigen
Fachgelehrten Gelegenheit zur Ausführung größerer Arbeiten geben. Trotz der in
England viel weniger verbreiteten wissenschaftlichen Bildung hat dieses Land aus
diesem Grunde doch großes geleistet und verhältnismäßig viel Talente ersten
Ranges entwickelt. In neuerer Zeit haben England, Frankreich und Amerika, die
Länder, die im Konkurrenzkampfe unsere ärgsten Gegner sind, die große Bedeutung
der wissenschaftlichen Ueberlegenheit für die materiellen Interessen erkannt und
sind eifrig bestrebt, durch Verbesserung ihres Unterrichts die
naturwissenschaftliche Bildung zu erhöhen und Einrichtungen zu schaffen, welche
den wissenschaftlichen Fortschritt begünstigen.“
Als Beispiel dafür, in welchem Maße die innige Vereinigung der wissenschaftlichen
Forschung mit der technischen Anwendung industrielle Ergebnisse zeitigen kann, führt
Siemens die schnelle Entwicklung der chemischen
Industrie Deutschlands an und die dominierende Stellung, welche sie in der Welt
einnimmt.
Der Chemie gegenüber hatten sich die Verhältnisse in der maschinellen und
elektrischen Technik wesentlich ungünstiger entwickelt. Diese Gewerbe, die auf
mechanischer Grundlage beruhen, benötigen für physikalische exakte Untersuchungen
kostspieliger Instrumente und besonders geeigneter Räume, woraus sich ergibt, daß
bei diesen Industriezweigen das Zusammenarbeiten und das Fortschreiten von Theorie
und Praxis unter wesentlich schwierigeren Umständen als bei der Chemie vor sich
geht.
Es ist daher, wie Siemens ausführt, Pflicht des Staates,
dafür zu sorgen, daß diese Gewerbe nicht hinter der Entwicklung der chemischen
Industrie zurückbleiben. Es muß insbesondere dafür gesorgt werden, daß der
technische Fortschritt nicht nur von einigen wenigen besonders günstig situierten
Anstalten abhängig wird, sondern es ist darauf hinzuarbeiten, daß die Entwicklung
der physikalisch-technischen Grundlagen der mechanischen Gewerbezweige durch
möglichst viele weit verzweigte Kanäle in alle Schichten der Gewerbe hineindringt.
Im einzelnen wird geltend gemacht, daß die Präzisionsmechanik ihre frühere
Ueberlegenheit in bedenklichem Grade damals verloren hatte unter Verhältnissen,
die dahin führten, daß die Staatsanstalten ihren Bedarf an Präzisionsinstrumenten
nicht mehr im Inlande befriedigen konnten. Erst der staatliche Eingriff hatte hierin
eine wesentliche Besserung herbeigeführt. Es handelte sich insbesondere um die
Herstellung der verschiedenen zu optischen, thermometrischen, elektrischen Zwecken
nötigen Gläser und um die exakte Bestimmung der physikalischen Eigenschaften
derselben. Diese Verhältnisse, von denen Siemens hier
spricht, haben dann bekanntlich gerade bezüglich der Glastechnik im Zusammenhange
mit den thermometrischen Untersuchungen der Kaiserlichen Normal-Aichungskommission
zur staatlichen Förderung der Arbeiten Schotts in Jena
geführt, durch die die modernen Gläser, die beherrschbare physikalische
Eigenschaften besitzen, in die thermometrische Meßtechnik eingeführt wurden und zu
der außerordentlichen Entwicklung der optischen Industrie führten, der die großen
Erfolge Deutschlands auf diesem Gebiete, nicht zuletzt auch auf dem Gebiete der
Kriegs-Meßinstrumententechnik, zu verdanken sind.
Weitere Forderungen von Siemens beschäftigen sich mit der
Frage der experimentellen Untersuchung der Eigenschaften der Metalle und ihrer
Legierungen, ihrer Elastizitäts- und Reibungsverhältnisse. Auch dieser Zweig seiner
Ideen hat im Laufe der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts seine Verwirklichung
gefunden, zunächst in der Gründung des Königlichen Materialprüfungsamtes und
weiterhin in der Entwicklung ähnlicher Anstalten an den Technischen Hochschulen zu
Darmstadt und Stuttgart, München und Dresden, denen sich in neuerer Zeit weitere
Hochschulanstalten dieser Art angeschlossen haben.
Der dritte Zweig der Wünsche, die Siemens entwickelt,
widmet sich besonders eingehend den elektrotechnischen Untersuchungen. Alles, was er
hier aufführt, Untersuchungen über spezifische Leitungsfähigkeit der Metalle, über
Induktionskonstanten der Nichtleiter und deren Isolationskonstanten bei
verschiedenen Temperaturen und hohen elektrischen Spannungen, die Festlegung der
elektrischen Meßmethoden, die Schaffung reproduzierbarer elektrischer Maßeinheiten,
ist verwirklicht worden durch die Tätigkeit der Physikalisch-technischen
Reichsanstalt, mit der sich dann im einzelnen der Aufsatz von 1884: „Ueber die
Bedeutung und die Ziele einer zu begründenden Physikalisch-technischen
Reichsanstalt“ noch besonders eingehend befaßt. Dieses Gutachten, welches in
einer Denkschrift an den Reichstag enthalten ist, wird außerdem noch dadurch
bemerkenswert, daß Werner Siemens sich darin bereit
erklärt, dem Reiche behufs Gründung eines Instituts zur Ausführung
naturwissenschaftlicher Forschungen für technische Zwecke eine Schenkung von einer
halben Million Mark in Grundwert oder in Kapital zu machen. Die spätere Entwicklung
dieser Anstalt, die kurz darauf begründet wurde, hat gezeigt, wie richtig seine
Grundsätze waren und welchen großen Nutzen und Segen diese für die Industrie
Deutschlands gestiftet hat. Und es ist vielleicht nicht überflüssig, darauf
hinzuweisen, daß mit der Physikalisch-technischen Reichsanstalt Werner
Siemens' Gedanken nicht zu Ende gedacht worden sind. Wie alle fruchtbaren
Ideen haben sie in anderen Männern weiter gewirkt, so daß heute die vom Staate
unterstützte Forschungstätigkeit durch die zahlreichen Maschinenbaulaboratorien der
Hochschulen ihren Ausdruck findet, denen sich die Versuchsanstalten des Schiffbaues
und Ingenieurbauwesens anschließen. Den neuesten Zweig dieser Entwicklungsreihe aber
haben wir in der Kaiser-Wilhelms-Akademie der Wissenschaften und ihren großzügigen
Forschungsinstituten zu erblicken.
Nächst jenen beiden Aufsätzen, die sich mehr mit einigen Sonderfragen der
wissenschaftlich-technischen Entwicklung befassen, gibt uns der Vortrag, den Siemens
1886 auf der Naturforscherversammlung hielt, betitelt: „Das
naturwissenschaftliche Zeitalter“ einen Einblick in die allgemeine
Auffassungsweise seines Verfassers von dem Zusammenhange der naturwissenschaftlichen
Technik mit unserer gesamten Kulturentwicklung. In der Einleitung hebt er an Hand
einer geschichtlichen Schilderung der technischen Vervollkommnungen, die er von
Jugend auf mit erlebt hatte, die gegenseitige Befruchtung von Naturwissenschaft und
Technik hervor und weist auf die daraus hervorgehende Beschleunigung der
Kulturentwicklung besonders hin. Das wesentlichste Ergebnis dieser Entwicklung ist
eine dauernd progressiv sich steigernde Vereinfachung der Gewinnung der materiellen
Existenzmittel, wodurch ein Ueberschuß an Kräften sich ergibt, der auf die geistige
Ausbildung verwendet werden kann, woraus dann Siemens
weiter auf eine fortschreitende Besserung des materiellen und moralischen Zustandes
der Menschheit schließt.
Gegenüber diesen erfreulichen Ausblicken wendet er sich aber auch der Frage nach der
sozialen Wirkung der eben geschilderten Erscheinungen zu. Zweifellos ist mit einer
solchen Entwicklung zunächst ein Sinken der Preise, zunehmender Mangel an
Arbeitsgelegenheit, Zerstörung des Handwerkerstandes, Sinken der Kapitalrente und
eine Ueberproduktion von Kapital verbunden, Tatsachen, die schon damals niemandem
verborgen waren. Es ist das Verdienst von Werner Siemens,
gegenüber der damals stark einsetzenden sozialistischen Ausbeutung jener
Entwicklungserscheinungen darauf hinzuweisen, daß diese Zustände gewissermaßen als
Krankheiten eines Ueberganges von einem alten zu einem neuen Wirtschaftssystem zu
betrachten sind, und daß insbesondere die Zerstörung des Handwerkerstandes im
Verlaufe der Entwicklung zum Stillstande kommen und sich wieder zum Bessern wenden
würde, sobald die wirtschaftlich-technischen Vorbedingungen für die erforderliche
Verbilligung der Energie und die leichtere Kapitalbeschaffung, auch für die
Handwerker, gefunden sein würden. Zweifellos hat Siemens
mit seiner Auffassung im allgemeinen Recht behalten. Die Entwicklung der Technik hat
manche Arten des Handwerks vernichtet, dafür sind aber andere Zweige aufgekommen, –
wir nennen nur die zahlreichen Firmen der elektrischen, sowie der Gas- und
Wasser-Installationstechnik – so daß heute wohl niemand, der objektiv denkt, an der
Ansicht von der sozial zerstörenden Tendenz der industriellen Entwicklung festhält.
Der Mittelstand, zu dem die Handwerker gehören, hat sich erheblich verbreitert, und
auch der Arbeiterstamm der an Umfang bedeutend zugenommen hat, nimmt ebenso
zweifellos teil an der Verbesserung und Zugänglichmachung der materiellen
Existenzmittel für den Einzelnen.
Man kann sogar sagen, daß gerade die Zusammenballung der wirtschaftlichen Macht in
der Hand der Gesellschaften überhaupt erst die Möglichkeit gibt, in großem Maßstabe
unabhängig von den Staats- und Kommunalmitteln für das materielle und geistige
Wohlergehen der Angestellten und Arbeiter zu sorgen. Mehr und mehr bildet sich die
soziale Einsicht der Leiter der Gesellschaften aus und betätigt sie sich in der
Schaffung gemeinnütziger Anstalten für den Einkauf der täglichen Bedarfsgegenstände
einschließlich der Nahrungsmittel, von hygienischen Einrichtungen und in der
Bereitstellung von Werksbibliotheken.
Die Entwicklung auf diesem Gebiete ist heute eine derartige, daß sie zum Teil weit
hinausgeht über das, was Werner Siemens vor dreißig
Jahren geahnt hat, und so bestätigt sie alle die Züge, die er mit klarem Blick als
das Wesen der werdenden Industrie erkannt hat.