Titel: | Technische Friedensaufgaben. |
Autor: | W. Müller |
Fundstelle: | Band 332, Jahrgang 1917, S. 201 |
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Technische Friedensaufgaben.
Von Dr. Ing. W. Müller,
Privatdozent an der Technischen Hochschule in Braunschweig.
MUELLER: Technische Friedensaufgaben
Der Krieg ist auf dem Höhepunkt angelangt und langsam, aber mit sicherem Schritt
geht es dem Frieden entgegen, den wir alle herbeiwünschen, um wieder die geordnete
Friedensarbeit aufnehmen zu können. Allmählich rüstet sich auch die Industrie für
die kommende Zeit, gilt es doch, den drohenden Wirtschaftskrieg ebenfalls zu einem
guten Ende zu führen.
Es würde eine vollständige Verkennung der Tatsachen sein, wollte man die künftige
Friedenszeit als eine leichte Wirtschaftsperiode betrachten, nein, sie wird sicher
vielmal schwerer sein als die Zeit der Umstellung und Durchführung der
Kriegswirtschaft.
Die Feinde, allen voran England und die Vereinigten Staaten von Amerika, gehen in der
Vernichtung unserer ausländischen Märkte systematisch und darum auch mit Erfolg vor,
England bekämpft in erster Linie unseren Handel, Nordamerika dagegen hat in unserer
Industrie den gefährlichsten Wettbewerber erkannt; beide ergänzen sich daher in
ihrem Vernichtungswillen in einer für uns um so ungünstigeren Weise.
Von den für unsere Ausfuhr in Betracht kommenden Ländern sind nur wenige nicht im
Gefolge der Feinde. Daher sind die wirtschaftlichen Beziehungen zu dem größten Teil.
des Auslandes auf dem Erstarrungspunkt angelangt und werden infolge der nachhaltigen
feindseligen Gefühle der Bevölkerungen auch nicht sobald nach Friedensschluß in
friedfertige Bahnen geleitet werden können. In klarer Erkenntnis dieser Tatsachen
rüsten die Feinde jetzt schon zum späteren Wettbewerb und setzen alle Mittel daran,
den mit dem Tage des Friedensschlusses von neuem, aber um so erbitterter
hereinbrechenden Wirtschaftskampf zu einem für sie guten Ende zu führen. Hierbei ist
neben der feindlichen Gesinnung, wozu auch fast durchweg die neutrale zu rechnen
ist, der während der Kriegsjahre befestigte Absatz der Engländer und besonders
Nordamerikaner in Rechnung zu stellen.
Eine rechtzeitige Umstellung auf die Friedenswirtschaft ist notwendig dergestalt, daß
die Fabrikation nach dem Grundsatz „gut, billig und schnell“ von statten
geht. Es ist das um so mehr notwendig, als die durch jahrelange stärkste Ausnutzung
ausgesogenen Länder Europas und teilweise auch der neuen Welt einen Heißhunger nach
den verschiedensten Gegenständen verspüren werden; ich erinnere nur an die
Farbstoffe.
Es liegt in der Natur der heutigen Kriegführung, daß in besonderem Maße die
Mittelmächte mit Deutschland an der Spitze insofern recht ungünstig dastehen, als
hier die Ausnutzung der Vorräte, seien es Metalle, Maschinen, Textilwaren,
Lebensmittel in intensivster Weise vor sich gegangen ist. Diese Vorräte müssen
ergänzt bzw. neu aufgebaut werden, hierüber darf aber unter keinen Umständen die
Ausfuhr vernachlässigt werden, ja, letztere erscheint mindestens ebenso wichtig wie
die Fabrikation für den eigenen Bedarf.
Wie zu erkennen ist, sind also die Forderungen, welche die Friedenszeit an unsere
Industrie stellt, außerordentlich groß. Es fragt sich nunmehr, wie wir diesen
Anforderungen gerecht werden können.
Wie schon angedeutet, wird sich die gesamte Fabrikation nur in schneller und billiger
Weise vollziehen müssen, wobei das Augenmerk auf die Erzielung einwandfreier
Qualitätsware zu legen ist. In den Betrieben sind also die rationellsten
Arbeitsmethoden anzuwenden. Es soll nun hiermit nicht der restlosen Einführung des
Taylor- Systems das Wort geredet werden. Ohne Zweifel
verträgt sich diese Betriebsführung weniger mit unseren bisherigen
Arbeitsverhältnissen, wenn auch nicht verkannt werden darf, daß im Laufe der Zeit
eine gewisse „Amerikanisierung“ unserer Industrie, durch den Zwang der Verhältnisse
begründet, notwendigerweise eintreten wird. Trotzdem wird aber doch das Taylor-System manche Anregung geben und, wenn auch in
gemilderter Form, unter Anpassung an die deutschen Verhältnisse, Anwendung finden
können.
Neben dieser praktisch-wissenschaftlichen Seite ist zur rationellen Ausnutzung der
Betriebe die Beachtung und Verwertung der theoretisch – wissenschaftlich gewonnenen
Ergebnisse unumgänglich notwendig. Beide ergänzen sich zu einem einheitlichen Werk
und stellen die- wahre Kunst der modernen Betriebsleitung dar; nur sie ist imstande
dauernd unter Anwendung des geringsten Arbeitsquantums die größte Arbeitsleistung zu
erzielen.
Daß wir von diesem erstrebenswerten Zustande meist noch sehr weit entfernt sind, ist
wohl jedem Fachmann klar; allerdings liegt hier die Schuld nicht allein beim
Betriebsmann als vielfach auch beim Theoretiker, der es nicht genügend versteht,
seine Arbeiten den praktischen Verhältnissen anzupassen bzw. die Ergebnisse auf sie
zu übertragen. So wird schließlich leicht die Wohltat zur Last, und der Praktiker
weiß mit den vielen Tabellen, Schaulinien und Formeln solcher Abhandlungen nicht
viel anzufangen, denn zum langwierigen Studium fehlen ihm die Zeit, für ihn hat die
Arbeit nur dann Wert, wenn sie, in übersichtlicher und schnellfaßlicher Weise
geschrieben, sich eng an die Bedürfnisse der Praxis anlehnt. Weiter unten wird auf
diese Verhältnisse noch näher einzugehen sein.
Die Ergiebigkeit eines Betriebes wächst mit der Spezialisierung der Arbeit, so daß
eine Normalisierung der verwendeten Materialien und Teile und letzten Endes eine
solche der Fertigfabrikate nur von Nutzen sein kann. Dieser Normalisierung muß
natürlich eine zweckmäßige Betriebsorganisation zur Seite stehen.
Um nach Friedensschluß im Ausland die verlorenen Absatzmöglichkeiten wieder voll
zurückgewinnen zu können, erscheint der Zusammenschluß der einzelnen Industriezweige
zu gemeinsamem und daher tatkräftigerem Vorgehen als ein gangbarer Weg. Kleinliche
Bedenken, die meist nur dem Konkurrenzneid entspringen, sollten im Interesse des
Ganzen unterdrückt werden, zumal hier die Gelegenheit gegeben ist, die durch den
Krieg geschädigten, wirtschaftlich schwachen Unternehmen vor dem gänzlichen Verfall
zu bewahren und ihnen die Möglichkeit zu neuem im Interesse der gesamten
Volkswirtschaft liegenden Aufschwung zu bieten.
Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus muß diesen industriellen Verbänden der gewaltige
Vorteil zugesprochen werden, daß sie in der Lage sind, die Normalisierung ihrer
Fabrikate in ausgedehntester Weise zu betreiben, indem sie unter Beachtung der
Absatzmöglichkeiten, sowie der schnellen und billigen Herstellung Normaltypen
schaffen. Wohl muß diese weitgehende Normalisierung nicht als ein für den
Verbraucher idealer Zustand bezeichnet werden, da sie ihn dazu zwingt, auf
Sonderwünsche, welche vielleicht von erheblichem Wert für ihn sind, zu verzichten
oder einen entsprechend höheren Preis zu zahlen, aber nichtsdestoweniger bietet
sie außerordentliche Vorteile in der Ersatzmöglichkeit von Teilen, im Preise und in
der Lieferungsfrist, indem die beiden letzteren beträchtlich herabgesetzt werden
können; mancher andere Nachteil wird hierdurch wohl aufgehoben. Ich erinnere nur an
die Bestrebungen im Schiffbau, welche nicht nur bei uns, sondern auch in England als
fruchtbringend erkannt wurden. Eine den besonderen Verhältnissen angepaßte
Uebertragung auf andere Industriezweige des Maschinenbaues und der Elektrotechnik
dürfte bei gutem Willen der beteiligten Kreise unschwer zu erzielen sein.
Uebrigens besitzen wir schon Anfänge einer solchen allgemeinen Normalisierung zum
Beispiel in den Prüfnormen, die vom Internationalen Verbände für die
Materialprüfungen der Technik und insbesondere von dem deutschen Zweigverband
herausgegeben wurden; ganz ähnliche Bestrebungen zeigen sich in anderen Industrien;
auch der Verband deutscher Elektrotechniker hat schon eine recht ersprießliche
Tätigkeit durch die Einführung seiner Normalien ausgeübt. Aber alle diese Beispiele
sind erst die Anfänge einer Entwicklung, deren Fortgestaltung nur im Interesse
unserer vaterländischen Industrie liegt.
Den Industrieverbänden würde nun auch die Aufgabe obliegen, die ausländische Presse,
Tages- wie Fachpresse, in einem für unsere Industrie günstigen Sinne zu bearbeiten
und mit zweckentsprechenden Nachrichten zu versorgen. Das Gewicht des gedruckten
Wortes hat sich während des Krieges als außerordentlich schwer erwiesen; eine
geeignete Propaganda wird daher auch ein gutes Teil zur Wiedergewinnung der
verlorenen Auslandmärkte beitragen.
Wie ich oben bemerkte, vollzieht sich die Einbürgerung der Wissenschaft in die
praktische Technik nur verhältnismäßig schwer; die Forschung hat sich allerdings in
vielen Fällen nicht genügend an die Praxis angelehnt, aber nichtsdestoweniger trifft
letztere auch eine erhebliche -Schuld. Die von ihr vielfach beliebte Zurückweisung
alles Wissenschaftlichen ohne nähere Prüfung auf die Brauchbarkeit ist kurzsichtig
und unklug und mit dem Geiste des Ingenieurs, welcher alles, auch das kleinste
Mittel zur Hebung und Verbesserung der Fabrikation in seinen Gesichtskreis ziehen
sollte, unvereinbar. In Zukunft wird die Praxis auch wohl nicht mehr der
Wissenschaft entraten können, beide müssen als gleichberechtigte Faktoren
zusammenarbeiten.
Zur Ausnutzung der Wissenschaft für die Bedürfnisse der Praxis lassen sich
verschiedene Wege anwenden, denen in Zukunft näher zu treten, sich wohl die
Gelegenheit und Notwendigkeit gibt.
Zunächst sind unsere vorhandenen Forschungsinstitute, Materialprüfungsämter und
Institute der Hochschulen weiter auszubauen.
Da diese Anstalten teilweise auch für Rechnung Fremder Untersuchungen ausführen, ist
ihre Organisation im Hinblick auf eine möglichst billige, schnelle und rationelle
Arbeitsweise zu entwickeln. Diese Forderung bedingt allerdings eine Anpassung
an die in der Industrie gebräuchlichen Grundsätze des freien Kräftespieles, das
allein einen dauernden Fortschritt verbürgt.
Neben den vorhandenen Instituten, die in der Hauptsache praktische Ziele verfolgen,
sind neue Anstalten zu errichten, welche sich mehr dem rein wissenschaftlichen Zweck
widmen und lediglich Forschungsstätten sind. Den entscheidenden Schritt nach dieser
Richtung haben wir schon durch die Erbauung der Kaiser-Wilhelm-Institute getan, aber
hier bestehen noch große Lücken, und es ist hocherfreulich, daß der Verein deutscher
Eisenhüttenleute an die Errichtung eines Instituts für Eisenforschung schreitet. Man
kann hierbei nur wünschen, daß aus Mitteln der Metallindustrie bald auch eine
Forschungsstätte für Metalle und deren Legierungen eingerichtet wird. Die Aufgaben,
welche einem solchen Institut zufallen, sind von außerordentlicher Bedeutung sowohl
für die Wissenschaft wie für die Praxis; ich nenne hier nur die Auffindung neuer
Legierungen, Ausarbeitung ihrer Zustandsdiagramme, Ermittlung der Eigenschaften,
Erforschung der Kristallisationsgesetze und des Gefügeaufbaues, Aufgaben, welche
viel Zeit, viel Geld und ein eingeschultes Personal erfordern.
Uebrigens möge hier auch die schon bestehende Vermittlungsstelle für
technisch-wissenschaftliche Untersuchungen erwähnt sein, welche die Ausführung
solcher Arbeiten zwischen der Industrie und den Instituten der Hochschulen und
Universitäten vermitteln soll. Die Einrichtung dieser sowie die vom Verein deutscher
Ingenieure ins Leben gerufene Bach-Stiftung für
technischwissenschaftliche Forschung sind mit großer Genugtuung zu begrüßen. Es ist
nur zu hoffen, daß beide Ersprießliches leisten werden. Was die Vermittlungsstelle
anbetrifft, so vermag die Industrie durch Ausschaltung jeder falsch angebrachten und
engherzigen Geheimnistuerei mit gutem Beispiel voran zu gehen.
Als Ergänzung dieser Forschungsanstalten möchte Verfasser noch die Errichtung einer
technischen Zentralbücherei vorschlagen. Wohl ein jeder, der sich wissenschaftlich
betätigt, hat die Erfahrung gemacht, auf manche verheißungsvolle ältere Quelle
verzichten zu müssen, weil sie nur schwer oder vielleicht gar nicht mehr
aufzutreiben war. Nun könnte man ja eigentlich von den Hochschulen das Vorhandensein
reich ausgestatteter Büchereien erwarten, aber leider befinden sich diese
mangels der nötigen Geldmittel in zum Teil recht gedrückten Verhältnissen. Hier soll
die Zentralbücherei den Ausgleich schaffen. Bestimmungsgemäß würde an sie eine
gewisse Anzahl Exemplare einer jeden Druckschrift rein technischen oder
technisch-wirtschaftlichen Charakters abzuliefern sein, so daß hier alle Quellen zu
finden wären und zugleich der Nachwelt eine lückenlose Sammlung von großem
kulturhistorischem Wert verbleiben würde.
Als dritter Faktor im technischen Leben gilt die Hochschule, die Ausbildungsstätte
des Ingenieurs. Sie ist ein Kind der Neuzeit und entsprechend ihrer Jugend noch
fortdauernden Veränderungen unterworfen. Auf ihr ruht nach dem Kriege eine größere
Verantwortung, hat sie doch für den notwendigen Nachwuchs an Ingenieuren zu sorgen
und ihn vom Beginn des Studiums an für die gesteigerten Anforderungen der neuen
Friedenswirtschaft vorzubereiten. Zur restlosen Erreichung dieses Zieles sind
natürlich erstklassige Einrichtungen in den Laboratorien und übrigen Lehrmitteln
notwendig, auch berücksichtige man den Ausbau der Büchereien, die bislang noch im
Gegensatz zu denen der Universitäten als Stiefkinder behandelt wurden. Man halte
sich stets vor Augen, daß infolge der freien Konkurrenz der Hochschulen diejenigen
am besuchtesten sind, deren Lehrkräfte und Einrichtungen den größten Ruf
genießen.
Die Zukunft des Landes beruht vornehmlich auf der Industrie. Die unblutigen
Schlachten der kommenden Friedenszeit erhalten wie die Kriegsschlachten ihr Werkzeug
aus den Fabriken der Heimat. In gleicher Weise wie bisher wird auch später der
Ingenieur auf dem Posten sein, um dem Lande das zurückgewinnen zu helfen, was
verloren wurde; dieses wird aber in Anbetracht der ungeheuren Verluste nur im
einigen Zusammenarbeiten der drei Faktoren Hochschule, Wissenschaft und Praxis
möglich sein. Eingedenk der Verdienste, welche sich die Ingenieure vor und während
der Kriegszeit um Deutschlands Ansehen und Wehrkraft erworben haben, sowie eingedenk
der verantwortungsvollen großen Aufgaben, die ihrer in der kommenden Zeit harren,
hoffen sie mit vollem Recht, daß die schon so viel besprochene Neuorientierung auch
ihnen das erstrebte Ziel der völligen Gleichberechtigung mit den Juristen bringen
wird, getreu dem Kanzlerworte „Freie Bahn für alle Tüchtigen“.