Titel: | Grundlagen, Grenzen und Gefahren der Normalisierung. |
Autor: | W. Speiser |
Fundstelle: | Band 332, Jahrgang 1917, S. 345 |
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Grundlagen, Grenzen und Gefahren der
Normalisierung.
Von Dipl.-Ing. W. Speiser, Kladno (Böhmen).
SPEISER: Grundlagen, Grenzen und Gefahren der
Normalisierung.
Allenthalben hat heute der Gedanke erfreulich festen Fuß gefaßt, daß für eine
gesunde und kräftige Weilerentwicklung unserer Industrie nach dem Kriege weit
größerer Wert als bisher gelegt werden muß auf eine weitgehende Normalisierung in
allen Arbeits- und Erzeugungsgebieten, die einer solchen überhaupt zugänglich sind.
Ueberall regt es sich in den Kreisen der Industrie, um teils in streng
abgeschlossenen Sondergebieten, teils in weitschauender Umfassung großer
Erzeugungsgruppen Normen auszuarbeiten, die eine Vereinfachung und Verbilligung und
dabei gleichzeitig eine Erhöhung der Brauchbarkeit der Erzeugung bezwecken. Die
Vereinigung des Vereines deutscher Ingenieure mit dem königlichen Fabrikationsbüro
in Spandau zur Schaffung von „Normalien für den deutschen Maschinenbau“Z. d. V. d. I. 1917 S. 809. dürften
zu den umfassendsten und bedeutungsvollsten Maßnahmen in diesem Sinne gehören.
Grundlagen.
Der Vorgang bei der Aufstellung von Normalien jeder Art ist recht sehr verwickelt, er
ist an bestimmte, in seinem eigenen Wesen liegende Grenzen gebunden und birgt
mancherlei Gefahren in sich, die der eigenen Absicht des Normalisierens selbst
entgegen zu wirken vermögen und deshalb bei jedem Versuch einer Normalisierung ganz
besonders im Auge zu behalten sind.
Bei der Vornahme einer Normalisierung können zwei grundsätzlich verschiedene Wege
beschritten werden. Der häufigste ist der, daß sich im Laufe der Zeit in irgend
einem Betrieb oder einem Fachgebiet unter den ganz willkürlich und zufällig einmal
gewählten Formen eine bestimmte Anzahl immer wiederholt, weil eben kein Grund
vorliegt, die vorhandene und „bewährte“ Form zu verlassen. Wenn das Gußmodell
für ein Handrad einmal mit 317 mm ø ausgeführt ist, so ist ja für die allermeisten
Fälle ganz gleichgiltig, ob ein neu herzustellendes Rad gerade 300 mm oder 320 mm ø
hat; so wird naturgemäß das bereits vorhandene Modell gewählt, vorausgesetzt
allerdings, daß der entwerfende Techniker überhaupt Kenntnis von seinem
Vorhandensein hat. Es wäre zwecklos, daneben Handräder mit wenig abweichenden
Durchmessern herzustellen, und erst wenn ein wirkliches Bedürfnis für eine größere
Abweichung vorliegt, wird der Konstrukteur ein neues Modell schaffen, nachdem er
sich überzeugt hat, ob nicht in seinem Betriebe bereits ein größeres Modell
vorhanden ist, das seinem Zwecke ebenfalls dienen kann. Ja, er wird sich, wenn
die Frage öfters an ihn herantritt, eine Liste der vorhandenen Modelle
zusammenstellen, nach der er seine Auswahl treffen kann
Eine „Normalientafel“ ist damit entstanden. Sie ist gekennzeichnet dadurch,
daß die einzelnen Glieder der Reihe durch Zufall entstanden sind, daß ihre
Abmessungen untereinander keinen Zusammenhang haben und daß die Reihe lückenhaft
sein wird, indem die Abstände in den Abmessungen der einzelnen Glieder bald größer,
bald kleiner sein werden. Da bedeutet es dann schon einen erheblichen Schritt
vorwärts, wenn bei der Herstellung einer neuen Form angestrebt wird, sie so in die
Reihe der bereits vorhandenen einzupassen, daß sie wirklich eine Lücke ausfüllt, daß
also, um beim Beispiel der Handräder zu bleiben, zwichen 300 und 400 nun nicht etwa
210 oder 390 eingeschoben, sondern etwa 350 gewählt wird. Der vorausschauende
Konstrukteur wird in seiner Normalientafel bestimmte Größen, die ihm zur planmäßigen
Vervollständigung seiner Reihe noch fehlen, im voraus festlegen und im Bedarfsfalle
eben diese festgelegten Größen, aber auch nur diese, ausführen. Er wird ferner auch
bestrebt sein, von zwei durch den Zufall des Gewordenen besonders nahe und
überflüssig nahe zusammenliegenden Formen der Reihe die eine als entbehrlich
allmählich auszumerzen und durch die andere zu ersetzen, und zwar wird er natürlich
die bestehen lassen, die besser in den Aufbau, in das Größengesetz seiner Reihe
hineinpaßt. Ja, es kann so weit kommen, daß Formen, gegen die an sich nichts
einzuwenden wäre, verlassen werden, um eben das Gesetz der Reihe einzuhalten oder
genauer zum Ausdruck zu bringen. Rücksichten der Herstellung und auch der Schönheit
können dabei mitsprechen.
Kurz, der Weg dieser ersten und allgemeinsten Art der Normalisierung ist der Aufbau auf dem Gewordenen, die Beibehaltung willkürlich
entwickelter Formen, die bestenfalls nach methodischen Grundsätzen geordnet, auch
gesichtet und ergänzt werden.
Wenn auch häufig auf dem Bisherigen fußend, so steht doch in einem gewissen
grundsätzlichen Gegensatz dazu das andere mögliche Verfahren, nämlich die Festlegung der einzelnen Formen von vorn herein vor der
Ausführung auf Grund einer vorausschauenden, systematisch aufbauenden Ueberlegung.
Man wird namentlich dann, wenn es gilt, ein neues Gebiet auszubauen, im voraus die
einzelnen Möglichkeiten überdenken und die erforderlichen Formen in Reihen ordnendie irgend eine
Gesetzmäßigkeit des Baues von vornherein erhalten werden. Es soll damit eben der
zufälligen Entstehung plan- und gesetzloser Formen vorgebeugt werden.
Und hier entsteht nun jedesmal die weitere grundsätzlich bedeutungsvolle Frage: Ist
schon irgend ein Anhalt vorhanden für diese Gesetzmäßigkeit, ja auch nur für die
Ausgestaltung einer oder mehrerer Einzelformen, um die dann die ganze Reihe
herumkristallisiert werden kann. In sehr vielen Fällen werden solche Anhaltspunkte
bestehen, meistens in der Art, daß in dem betreffenden Gebiet schon irgend welche
vereinzelte Ausführungen da sind, die aber noch zu sehr zerstreut sind, als daß man
eine vollständige Normalisierung auf diesem Gerippe aufbauen könnte. Es wird sich
dann also fragen, was von diesem Vorhandenen ist brauchbar und was ist wichtig
genug, um darauf weiter zu bauen, daran anzuschließen, oder aber ist etwa alles
Vorhandene aus grundsätzlichen Ueberlegungen nicht geeignet für den Ausbau zu einer
systematischen Reihe, so daß das Vorhandene verlassen werden muß, um Geeigneteres an
seine Stelle zu setzen. Dieser Fall könnte zum Beispiel eintreten, wenn zu einem
bisher nur in einer Größe hergestellten Gegenstand, der fortan in einer
fortlaufenden Reihe verschiedener Größen erzeugt werden soll, ein Werkzeug, etwa für
eine Bohrung, in Zollmaß vorhanden ist, während die neue Reihenherstellung
naturgemäß auf Millimetermaß eingerichtet werden muß.
Bisweilen wird der Versuch, sich an Vorhandenes anzulehnen, zu keinem Ziel führen,
weil eben noch nichts Benutzbares vorhanden ist; sehr viel häufiger noch wird das
Ergebnis unbefriedigend sein, weil das Vorhandene sich in keine folgerecht
zusammenhängende Form bringen lassen will. In diesen Fällen bleibt dem Organisator
einer Normalisierung nichts anderes übrig, als durchaus von Anfang an mit der Form
auch das System der Reihe von sich aus festzulegen; die edelste aber auch
verantwortungsvollste Normalisierungstätigkeit. Hier kommt es jetzt darauf an, von
Anfang an alle Möglichkeiten zu überblicken, namentlich auch die einer zukünftigen
Entwicklung, und zugleich die Forderungen möglichst restloser Zweckmäßigkeit mit
denen der Folgerichtigkeit, der Gesetzmäßigkeit zu vereinigen. Vor allem aber müssen
die Anforderungen verschiedener Gebiete, auch solcher, die abseits vom eigenen Acker
liegen, berücksichtigt werden, damit die aufzustellenden Normen einen möglichst
weiten Wirkungsbereich erlangen und damit nicht auf verwandten oder Nachbargebieten
alsbald dieselbe Sache von neuem normalisiert – und dann natürlich in anderem Sinne
und anderer Form normalisiert werden muß, weil die Normen des einen Gebietes auf das
andere nicht übertragen werden können. Gerade diese Rücksichtnahme auf andere
Gebiete ist von tief einschneidender Bedeutung und gerade hierin ist leider bei
vielen Normalisierungen häufig gesündigt worden. Freilich setzt sie außer dem guten
Willen und dem Darandenken nicht nur eine weitreichende Kenntnis des Organisators
und eine Anpassungsfähigkeit an die Eigenart fremder Betriebe voraus, sondern sie
erschwert durch den Widerspruch der einzelnen Forderungen gegeneinander häufig die
Arbeit auf einem Gebiet so sehr, daß man schließlich dazu geführt wird, die
Normalisierung auf ein Einzelgebiet zu beschränken, ohne Rücksicht auf die
Forderungen der Nachbarn. Auch das bedeutet ja in vielen Fällen schon einen
Fortschritt, wenn wenigstens auf einem Gebiet Ordnung geschaffen wird, wenn schon
das Durcheinander umher einstweilen bestehen bleiben muß; das gute Beispiel kann
unter Umständen doch auch dorthin wirken.
Die Vielheit der von verschiedenen Seiten gestellten Anforderungen bildet immer
eine. Hauptschwierigkeit für jede Normalisierung. Jede Stelle, die von einer
Normalisierung erfaßt werden soll, meint gemeiniglich, von den durch die Gewohnheit
geheiligten Formen nicht abgehen zu können, nichts davon aufgeben zu dürfen. Eine
Vorausfestlegung von Formen, die dann bei eintretendem Bedarf verwendet werden
müssen, ohne die Wahl kleinerer Abweichungen zu haben, scheint vielen immer wieder
unmöglich. Je größer das Gebiet ist, das umfaßt werden soll, desto größer werden
diese Schwierigkeiten.
Grenzen.
Um in der Parteien Haß und Gunst nun überhaupt einen gangbaren Mittelweg zu finden,
wird man häufig darauf verzichten müssen, überhaupt auf die Stimme des Einzelnen zu
hören, denn wo der Eine das alleinige Heil sieht, wo der Eine unbedingt nur die Form
zulassen zu können meint, die gerade in seinen Kram paßt, findet zweifellos irgend
ein anderer, daß aus zwingenden Gründen gerade diese Form gänzlich unbrauchbar sei
und nur die von ihm mit ebenso zwingenden Gründen verteidigte die alleinige
Daseinsberechtigung habe.
Niemand wird für die Ewigkeit normalisieren wollen, aber die Aufstellung einer
Normalreihe hat doch nur Sinn, wenn sie für eine recht große Zeitspanne gedacht ist.
Der Wunsch nach Unbegrenztheit des Wirkungsbereichs und der Wirkungsdauer sollte an
der Wiege jeder Normalisierung stehen. Und deshalb muß es vermieden werden, daß,
nachdem die Reihe festgelegt ist, jederzeit oder auch nur jemals irgend jemand
kommen kann und mit Gründen, deren Stichhaltigkeit zu denen der ersten Reihe in
Vergleich gestellt werden kann, neue Formen nach einem anderen System als mehr
berechtigt fordern.
Eine zweckdienliche Begrenzung in der Wahl der Grundlagen ist also geboten. Es ist
demnach zu fragen, durch welche Grenzen die Grundlagen für eine Normalisierung
beschränkt sind, die nach Möglichkeit frei sein soll von Willkürlichkeiten
einzelner, vielmehr auf Grundlagen aufgebaut werden, die allgemeine Anerkennung
fordern dürfen mit Ausschluß aller Einzelstimmen. Solche Grundlagen sind dadurch zu
gewinnen, daß man sich von vornherein klar wird über die Systeme unserer
Ordnungsmethoden überhaupt. Wir haben heute gewisse bestimmte Wege zur Bewältigung
gewisser Vorstellungsreihen, zur Ordnung und Sonderung vieler Dinge, die allgemein
im täglichen Leben häufig und immer wieder der Ordnung bedürfen. Diese Wege unserer
heutigen Kulturwelt weichen von denen älterer und auch gleichartiger. Kulturen
bisweilen ab, sie sind aber für uns von so selbstverständlicher Bedeutung, daß wir
uns eine Organisierung ohne sie überhaupt kaum mehr vorstellen können oder vielmehr
als das Gegenteil der Organisierung empfinden würden. Es sind das unsere Zahlen- und
Maßsysteme, und wenn es auch durchaus selbstverständlich klingt, so muß doch mit
allem Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß bei jeder Normalisierung, die
Anspruch auf Dauerbestand machen will, auf die Eigentümlichkeiten unserer Zählweise
und auf unsere allgemein anerkannten Maße Rücksicht genommen werden muß.
Zunächst unser Zahlensystem. Nach dem ganzen Aufbau unserer Zahlenbegriffe und bei
der Selbstverständlichkeit, mit der uns heute das Dezimalsystem vertraut ist, ist es
uns gemeinhin sehr schwer vorstellbar, daß es Völker, Kulturen gegeben hat, die mit
anderen Zahlsystemen gerechnet haben, wie zum Beispiel die Babylonier nach dem
Sechzigersystem; gerade dem Techniker, der in seinem Beruf andauernd und viel mit
Zahlen umzugehen hat, scheint es unbegreiflich, wie ein Volk wie das englische, das doch bis
1914 auch in den Kreis der Kulturvölker gerechnet werden konnte, in seinem Maß- und
Geldsystem mit einer Zwölfereinteilung arbeiten kann. Und wenn auch nicht verkannt
werden darf, daß schließlich auch das Dezimalsystem nur eine augenblicklich unserer
Vorstellungsgewohnheit entsprechende Art der Anschauung, der Ordnungshilfe ist, die
vielleicht durch noch rationellere Methoden übertroffen werden kann und wird, so
wäre es doch unter den gegenwärtigen Umständen ganz sinnlos, irgend eine
Größenanordnung nicht auf der Grundlage unseres gegenwärtigen Zahlensystems und mit
Rücksicht auf das Dezimalsystem aufbauen zu wollen.
Ebenso hat die Entwicklung unserer Kultur, d.h. des Kulturkreises, in dem wir nun
einmal drinstecken und über den wir nur schwer hinaussehen können, zu einer ganz
bestimmten Festlegung in bezug auf Maße geführt. Was seinerzeit die französische
Meterkommission festgelegt hat, ist tatsächlich so sehr Allgemeingut der Menschheit
geworden, daß auch das Außenstehen des Kulturvolkes England nichts daran hat ändern
können. Auf dem Grunde der metrischen Normalien aber sind dann im Laufe der Zeit
eine große Zahl wissenschaftlicher Maßsysteme und Meßverfahren aufgetaut worden, die
Fundamente unserer ganzen wissenschaftlichen Maß- und Zahlenangaben sind darin
verankert, so daß auch hier eine Abweichung für praktische Zwecke undenkbar
erscheint. Und wenn wir uns auch darüber klar sind, daß die Meternorm eine
eigentliche innere Berechtigung nicht hat, ja wenn wir weitergehend finden, daß auch
an den Grundlagen des ganzen wissenschaftlichen Maß- und Gewichtssystems, des
Zentimeter- Gramm- Sekundensystems, an mehr als einer Stelle aus theoretischen
Ueberlegungen gerüttelt werden kann, so müssen wir uns doch sagen, daß mindestens
gegenwärtig es ein totgeborener Gedanke wäre, sich aus diesem System heraus, sich
daneben stellen zu wollen.
Die beiden genannten Rücksichten, die Anpassung an das vorhandene Zahlensystem und
die Einordnung in die wissenschaftlich gebräuchlichen Maßsysteme sind offenbar die
hauptsächlichsten, nahezu selbstverständlichen Grenzen für die Grundlagen einer
Normalisierung. Weitere Grundlagen werden sich von Fall zu Fall ergeben, häufig mit
so sicherer Selbstverständlichkeit, daß ein Zweifel nicht möglich ist (wie zum
Beispiel die Rechteckform für die Normalisierung von Papierformaten), andere so, daß
sie auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen, aber doch bei
verschiedenartiger Betrachtungsweise verschiedene Möglichkeiten zulassen. Hier die
richtigen und ausschlaggebenden herauszusuchen ist die schwierige und
verantwortungsvolle Aufgabe des Normalisators.
Gefahren.
Damit kommen wir zu den Gefahren, die mit jeder Normalisierung verbunden sind.
Nur allzuhäufig wird eine Norm oder gar eine Normenreihe aufgebaut, ohne daß alle
Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Grenzen genügend durchdacht sind, etwas Unreifes
wird zur Norm erhoben. Wenn dann im Laufe der Entwicklung die zugrunde liegenden
Gedanken weiter ausreifen, so ist natürlich das Durchsetzen dieser reiferen Frucht
sehr erschwert, weil ja bereits anderes als Norm festgelegt ist. Und das muß ja das
Bestreben und der stets leitende Grundgedanke bei der Aufstellung und Benutzung von
Normalien sein, daß sie so selten wie eben möglich geändert werden dürfen, weil sie
ja sonst ihren Beruf als Normen verfehlen. Ganz besonders in bezug auf die
Anwendungsmöglichkeit in benachbarten oder weiterab liegenden Sachgebieten
zeigt sich sehr häufig die mangelnde Reife der zum Gesetz erhobenen Norm:
Erschwernis auf dieser Seite steht dann der beabsichtigten und auf der anderen Seite
wohl auch erzielten Energieersparnis gegenüber. Ganz besonders bedauerlich ist es,
wenn, was auch nicht eben selten geschieht, in zwei verschiedenen Gebieten
gleichzeitig normalisiert und in dem einen das zur unumstößlichen Norm erhoben wird,
was im andern grundsätzlich verworfen wird. Gegensätze können hier entstehen und
Fehden, die den Glaubenskämpfen des Mittelalters an Erbitterung nicht
nachstehen.
Die bedauerliche Erscheinung, daß Unreifes zur Norm erhoben wird, und die dadurch
entstehenden Schäden werden sich im allgemeinen zunächst auf begrenzten
Sondergebieten bemerkbar machen, so daß ihre Wirkung Hemmungen des
Gesamtfortschritts nur an einzelnen Stellen zeitigt. Je größer aber das Sachgebiet
ist, das ein Normensystem sich erobert, desto größer ist auch die Wirkung auf den
Gesamtfortschritt der Kultur und desto größer auch die Gefahr, daß dieser geschädigt
wird durch ein Normalisieren im falschen Sinne. Die großen Normenkomplexe, die wir
bereits besitzen, gewinnen immer größere Wucht durch Angliederung weiterer
Sachgebiete; wenn einer diese Komplexe auf falschen oder
zweckwidrigen Voraussetzungen beruht, so wird natürlich durch Anwachsen weiterer
Normengebiete an denselben Stamm die etwaige Beseitigung des falschen Gedankens
immer mehr erschwert. Je weiter sich das Einflußgebiet einer Norm – ob richtig, ob
falsch – Anerkennung schafft, um so schwerer ist es wieder aus der Welt zu
schaffen.
Nun kann wohl keines unserer Normensysteme, auch nicht die verbreitetsten, auch die
Zahlen- und Maßsysteme nicht, einen Anspruch auf restlose Folgerichtigkeit machen,
denn als Werkzeuge des Denkens sind auch diese Hilfsmittel entwicklungsfähig, und
wie oben bereits ausgeführt wurde, ist wohl vorstellbar, daß einst selbst an die
Stelle unserer allergebräuchlichsten Ordnungsmittel andere, folgerechtere Systeme
treten werden. Man denke zum Beispiel an unser Winkelmeßsystem oder an unsere
Zeitmessung. Trotzdem wäre es natürlich falsch, abgeleitete oder angelehnte
Normensysteme nun nicht auf die bestehenden Grundpfeiler der Normierung aufzubauen,
selbst wenn deren Fehler erkannt sind. Selbst wenn wir uns etwa darüber klar werden,
daß zum Beispiel das Zentimeter, auf dem ein sehr großer Teil unserer ganzen
wissenschaftlichen Maßlehre ruht, infolge eines bis dahin nicht genügend beachteten
Gesetzes in unserer Zahlenhandhabung denkrichtig nicht als Grundeinheit zu benutzen
wäre, sondern eigentlich entweder dem Meter oder dem Millimeter zu weichen
hätteW. Porstmann, Normenlehre, Leipzig 1917.,
so wäre es doch verfehlt, wenn man nun irgend eine neu aufzustellende Normenreihe,
die gleichwertig zwischen anderen wesensgleichen stehen soll, aus diesem Grunde
nicht auf dem Zentimeter aufbauen wollte. Das eben sind Grenzen für die gegenwärtige
Normalisierung, daß wir über gewisse, allgemein anerkannte oder doch allgemein
gebrauchte Hauptnormen nicht hinweggehen dürfen. Erst wenn man einmal daran gehen
sollte, die Grundlagen der großen Systeme umzugestalten, dann würden die kleineren
angeschlossenen, gewissermaßen sekundären Normenreihen automatisch mitgehen. Bis
dahin aber liegt es im Sinne der steten, gleichmäßigen Fortentwicklung, daß sich
zunächst ohne Nachprüfung der inneren Berechtigung die sekundären Einheiten an die
Grundkristalle angliedern, damit sich wenige übersichtliche Komplexe
herauskristallisieren, deren Wesensart und mit ihr ihre Daseinsberechtigung dann um
so übersichtlicher geprüft werden kann.
Nur in ganz seltenen Fällen wird man sich bei der Aufstellung neuer Normen auf den
Boden vollkommener Voraussetzungslosigkeit stellen können. Fast immer wird der
Normalisator eine ganze Anzahl von verschiedenen Bedingungen auf ihre mehr oder
minder grundsätzliche Bedeutung zu prüfen haben. Die endgiltige Entscheidung wird
sich immer auf einer längeren Ueberlegung aufbauen, auf dem Anhören und Durchdenken
von Gründen und Gegengründen. Für die kritische Beurteilung einer Normenreihe ist
die Kenntnis dieser Gedankengänge, die zu ihrer Aufstellung geführt haben, natürlich
von äußerster Wichtigkeit, und namentlich dann, wenn Zweifel an ihrer
Daseinsberechtigung auftauchen, sollte es, bevor diese ausgesprochen werden,
selbstverständliche Pflicht sein, die Berechtigung an Hand der Ueberlegungen zu
prüfen, die zu diesem Dasein führten. Aus diesem Grunde wäre es sehr zu begrüßen,
wenn bei allen Normalisierungen größeren Umfangs, sei es nun, daß sie von einzelnen
Industriewerken, Vereinen oder Behörden vorgenommen werden, nicht nur die
Ergebnisse, sondern möglichst ausführlich auch die bestimmenden Erwägungen
veröffentlicht würden, die zur Festlegung gerade dieser Normen und vielleicht zur
Verwerfung anderer Vorschläge geführt haben. Man veröffentlicht ja doch auch bei
Gesetzen diese bestimmenden Grundlagen und Vorarbeiten. Bei der weitreichenden
Bedeutung, die zum Beispiel die gegenwärtigen Normalisierungsbestrebungen des
Vereines deutscher Ingenieure unzweifelhaft erlangen werden, ist eine möglichst
ausführliche Veröffentlichung nicht nur der Normen selbst, sondern auch der
Ausschußverhandlungen dringend zu wünschen, sei es nun in der Zeitschrift oder in
einer besonderen Druckschrift. Die vom Verein herausgegebenen „Forschungsarbeiten
auf dem Gebiete des Ingenieurwesens“ wären zum Beispiel ein durchaus
geeigneter Ort dafür, da eine gründliche, durchdringende Erfassung der Grundlagen,
Grenzen und Gefahren der Normalisierung ganz zweifellos eine erhebliche
Forschungsarbeit auf dem Gebiete des Ingenieurwesens erfordert.
Zusammenfassung.
Für die Aufstellung von Normalien kommen zwei grundsätzlich verschiedene Wege in
Betracht: Die Benutzung zufällig entstandener Formen, die geordnet, gesichtet und
ergänzt werden, oder die Festlegung von vornherein auf Grund sachdienlicher
Ueberlegung. Die Grenzen für eine voraussetzungsfreie Normalisierung liegen im
richtigen Anschluß an die allgemein gebräuchlichen Zahlen- und Maßsysteme sowie in
der Rücksicht, auf benachbarte Sachgebiete. Jede Normalisierung zeitigt Gefahren
durch die Möglichkeit, daß Unreifes zur Norm erhoben wird; die gedeihliche
Fortentwicklung zum Ausgereiften kann dadurch erschwert werden. Es ist
wünschenswert, daß bei Normalisierungen größerer Bedeutung die zugrunde liegenden
Gedankengänge veröffentlicht werden.