Titel: | Weltbankier und Welteisenbahnnetz. |
Autor: | G. B., Essen |
Fundstelle: | Band 334, Jahrgang 1919, S. 140 |
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Weltbankier und Welteisenbahnnetz.
Von G. B., Essen.
G. B.: Weltbankier und Welteisenbahnnetz.
England als der Bankier der Welt hatte vor dem Kriege
seinen Kapitalmarkt in weitestem Maße für den Ausbau des
Welteisenbahnnetzes zur Verfügung gestellt. Britisches Kapital hat von
jeher besonders in Asien, Afrika und Südamerika den Bau von Eisenbahnen finanziert,
teils durch Gründung britischer Eisenbahnunternehmungen in Uebersee, teils durch
Gewährung von Anleihekrediten an fremde oder koloniale Eisenbahnen, teils durch
Uebernahme großer Aktienposten fremder Bahnen. Auch Anleihen fremder Staaten für den
Bau von Eisenbahnen wurden von englischem Kapital in großem Umfange finanziert. In
den letzten fünf Jahren vor dem Kriege waren in England nicht weniger als 268
Millionen Pfund Sterling neuer Werte von kolonialen und fremden Eisenbahnen
emittiert worden. Zum Vergleich sei erwähnt, daß die gesamten Neuemissionen von
Staats- und Kommunalpapieren, Schiffahrts-, Eisenbahn-, Bank- und Industriewerten in
dem Jahrfünft von 1909 bis 1913 zusammen in England 1049 Millionen Pfund Sterling
betrugen, so daß also der vierte Teil der gesamten Neuemissionen in dieser Zeit
allein von kolonialen und ausländischen Eisenbahn werten beansprucht wurde.
Mit dem Kriege hat sich das geändert. Der enorme Kapitalbedarf, den die britische
Regierung für ihre Kriegsanleihen entfaltete, hat in den letzten vier Jahren den
englischen Geldmarkt derart in Anspruch genommen, daß für private Emissionen und für
den Kapitalbedarf fremder Staaten lange nicht mehr die
Summen zur Verfügung standen wie vor dem Kriege. Im allgemeinen wurden derartige Emissionen vom
britischen Schatzamt im Kriege verboten. Infolgedessen sind die Neuinvestierungen von britischem Kapital in überseeischen
Bahnunternehmungen von 1913 bis 1918 auf ein Minimum gesunken. Verfolgt man die
Emissionsstatistik, welche die Londoner Finanzzeitschrift „The Economist“
alljährlich zu veröffentlichen pflegt, für die Gruppe Eisenbahnwerte eine Reihe von
Jahren zurück, so ergibt sich folgender Ueberblick über die Bewegung der
Neuemissionen von Eisenbahnwerten in England:
Jahr
britische
koloniale
fremde
zusammen
Eisenbahnwerte in Millionen Pfund
Sterling
1908
12,247
19,290
43,114
74,651
1909
0,400
11,244
30,767
42,411
1910
3,715
10,096
49,975
63,786
1911
3,200
20,408
45,579
69,187
1912
1,730
30,147
26,744
58,621
1913
1,019
14,941
28,039
43,999
1914
2,161
23,378
14,211
39,750
1915
3,294
3,965
2,940
10,199
1916
1,679
–
0,384
2,063
1917
–
–
–
–
1918
–
0,990
0,820
1,810
Britische Eisenbahnwerte sind hiernach in den letzten
beiden Jahren überhaupt nicht zur Ausgabe gelangt. Im Vereinigten Königreich ist das
Eisenbahnwesen während des Krieges ebenso wie in anderen Staaten, die am Kriege
beteiligt waren, vernachlässigt worden, und nicht anders steht es mit den britischen
Kolonien, wo außer der im Jahre 1917 erfolgten
Vollendung der australischen Ost-Westbahn (Trans-Australian Railway) nennenswerte
Fortschritte in dem Ausbau des Eisenbahnnetzes während der letzten Jahre nicht
stattfanden, weil das Kapital des Mutterlandes nicht mehr wie früher zur Verfügung
stand und die Regierungen der großen Kolonien infolge ihrer Teilnahme an den
Kriegslasten Englands selber keine Mittel verfügbar hatten. Die Emissionen von
kolonialen Eisenbahnwerten haben in den vier Jahren von 1915 bis 1918 in England nur
den Gesamtbetrag von 4955000 Pfund Sterling erreicht gegen 88874000 in der Zeit von
1911 bis 1914. Was die fremden überseeischen Länder
anbetrifft, die von jeher dem britischen Kapital reichlichen Spielraum zur
Betätigung auf dem Gebiete der Finanzierung von Eisenbahnen gaben, so haben diese
sich ebenfalls sehr einschränken müssen und im Kriege erheblich weniger Neubauten
fertiggestellt als früher, weil eben London kein Geld mehr geben konnte. Die
Neuemissionen von fremden Eisenbahnwerten in England hatten von 1911 bis 1914 nicht
weniger als 114573000 Pfund Sterling betragen, von 1915 bis 1918 erreichten sie nur
die Höhe von 4144000 Pfund Sterling. Auch die in diesen Ziffern nicht enthaltene
indirekte Finanzierung fremder Eisenbahnen durch Gewährung britischer Anleihekredite
an ausländische Staaten zu Eisenbahnzwecken ist im Kriege ausgeschaltet worden, da
im wesentlichen nur noch Darlehen an die Verbündeten zu Zwecken der Kriegführung
gegeben wurden.
Statistische Angaben über die Entwicklung des Welteisenbahnnetzes in den Kriegsjahren
sind allerdings noch nicht vorhanden, aber es ist sicher, daß die Fortschritte gegen
früher sehr gering gewesen sind. Außer dieser Tatsache hat nun aber der Krieg, indem
er die Betätigung britischen Kapitals im internationalen Eisenbahnwesen so gut wie
ausschaltete, weiterebemerkenswerte Folgen gezeitigt, die
Englands Finanzvorherrschaft auf diesem Gebiete künftig gefährden. Eine solche
Folgeerscheinung des Krieges ist die, daß die überseeischen Länder, deren
Eisenbahnen noch einer großen Entwicklung fähig sind, vereinzelt, wenn auch noch in
geringem Umfange, anfangen, sich im Eisenbahnwesen von
britischem Finanzeinfluß unabhängig zu machen, und etwa dringend
erforderliche Kapitalien für Eisenbahnbauten selber aufzubringen streben. Diese
Tendenz macht sich heute vor allem in einigen südamerikanischen Ländern geltend, die
in der Lage waren, während der vier Kriegsjahre durch ihre Lieferungen an die
Entente Kapital anzusammeln. In Uruguay, wo britisches
Kapital den größten Teil des vorhandenen Eisenbahnnetzes beherrscht, hat man bereits
einen beachtenswerten Anfang gemacht, sich auf eigene Füße zu stellen, indem die
Regierung der Republik kürzlich die in britischem Besitz befindliche Uruguay East
Coast Railway für den Staat erwarb, während der lange gehegte Plan, auch die
britische Central Uruguay Railway zu verstaatlichen, nur darum noch nicht
verwirklicht wurde, weil die Engländer zu hohe Forderungen stellten. Aehnlich liegen
die Dinge in Argentinien, dessen Eisenbahnnetz ebenfalls fast ganz durch britisches
Kapital geschaffen wurde und wo England etwa 250000000 Pfund Sterling in
Eisenbahnaktien und -obligationen angelegt hat. Die britischen Bahngesellschaften in
Argentinien sind in den Kriegsjahren in derartige finanzielle Schwierigkeiten
geraten, daß Neubauten dort schließlich ganz eingestellt werden mußten, und heute
besteht eine starke Strömung in der Oeffentlichkeit des Landes, die dahin geht, das
argentinische Bahnnetz zu nationalisieren. Daß Argentinien hierzu fähig ist, das
gibt man auch in England zu, ebenso wie man dort eingestehen muß („The
Statist“ v. 19. 4. 19), daß England jetzt kein Geld mehr in argentinischen
Eisenbahnbauten stecken kann, da es noch nicht einmal in der Lage ist, seine
Nahrungsmittelimporte aus Argentinien zu bezahlen, und hierfür von seinen
Lieferanten Kredite in Anspruch nehmen muß.
Eine weitere bemerkenswerte Erscheinung ist seit dem Kriege das Hervortreten Japans
und der Vereinigten Staaten als Geldgeber im internationalen Eisenbahnwesen. Beide
Länder streben danach, auf diesem Gebiete eine größere Rolle zu spielen als vor dem
Kriege. Japan welches heute infolge seiner Kriegsgewinne
über viel Kapital verfügt, ist in den letzten Jahren in China offen in die Fußtapfen Englands getreten und durch seine großen
Darlehen an China während des Krieges nach England der größte Gläubiger des Reichet
der Mitte geworden. Besonders an der Finanzierung des chinesischen Eisenbahnnetzes
hat Japan in den Kriegsjahren, wo europäisches Kapital mangelte, in hervorragendem
Maße teilgenommen, indem es, besonders unter der Aera des Kabinetts Terauchi, eine ganze Reihe von Eisenbahnanleihen nach
China gab, um damit die Kontrolle der Bahnen in die Hände zu bekommen, bis Englands
Eifersucht Einhalt gebot. Auch in China streben heute die Regierung und die
nationalistischen Kreise energisch eine Nationalisierung der gesamten Bahnen an, die
größtenteils mit englischem, französischem und belgischem (weniger mit deutschem)
Gelde gebaut wurden und dieses Streben wird heute von England aus leicht zu
durchschauenden Gründen lebhaft unterstützt. Die Rechte des fremden Kapitals sollen
bei einer solchen Nationalisierung, wie die „Morning Post“ v. 23. 4. 19 aus
Tientsin berichtet, von einer internationalen Kontrollstelle wahrgenommen werden,
bis die betreffenden fremden Kapitalien von China zurückgezahlt sind. Nach den
neuesten Plänen soll in Peking ein chinesischer National Railway Board, in welchem
auch ausländische Vertreter (Viermächte-Konzern) sitzen, errichtet werden, und diese Stelle
soll die bisherige Konzessionsjagd der verschiedenen Nationen in China beseitigen,
indem sie die künftige Eisenbahnpolitik des Landes bestimmt, über Neubauten, deren
Finanzierung usw. beschließt und die oberste Verwaltung der Nationalbahnen
führt.
Sollte der Plan zur Ausführung kommen, so wäre es immer noch sehr fraglich, ob China
auf die Entwicklung seines Eisenbahnnetzes mehr Einfluß erhielte als bisher, wohl
aber würden die ehrgeizigen Absichten Japans auf China
vereitelt werden und daran ist England gelegen, das nicht gewillt ist, die
chinesischen Bahnen unter Japans Kontrolle kommen zu lassen. Wahrscheinlich hofft
man in England, in der künftigen Eisenbahnverwaltung Chinas eine ähnliche Rolle zu
spielen, wie sie den Briten in der chinesischen Seezollverwaltung zugefallen ist,
nach deren Vorbild die englische Presse (Engineering vom 25. 4. 1919) die
Bahnverwaltung Chinas eingerichtet wissen will. Auch auf Südamerika hat übrigens
Japan ein Auge geworfen und will an dessen wirtschaftlicher Erschließung kräftig
mitarbeiten; so sind zum Beispiel in Brasilien im Jahre 1916 mehrere
Eisenbahnkonzessionen an Japaner vergeben worden.
Viel wichtiger als Japan scheinen aber die Vereinigten Staaten
von Amerika künftig auf dem Gebiete der Finanzierung und des Baues von
Eisenbahnen in Asien und Südamerika werden zu wollen. Die Amerikanische Union, deren
Bahnen seinerzeit großenteils mit englischem Gelde gebaut worden waren, hat heute
nicht nur alle amerikanischen Bahnwerte, die England besaß, von ihm zurückgekauft,
sie sucht auch bereits immer mehr an Englands Stelle als Geldgeber aufzutreten, wo
es sich um den Bau von Eisenbahnen handelt. Dieses Bestreben geht Hand in Hand mit
der großen weltwirtschaftlichen Neuorientierung, die die amerikanischen Finanzkreise
seit dem Kriege vornahmen, um einen amerikanischen Weltexport zu schaffen, und wird
durch die große Kapitalanhäufung, die der Krieg in der Union gezeitigt hat,
begünstigt. Eine Verkörperung dieser weltwirtschaftlichen Bestrebungen bildet
sozusagen die American International Corporation, jene
große Finanzierungsgesellschaft für den internationalen Markt, die von der National City Bank 1915 ins Leben gerufen wurde, und die
Tätigkeit dieses großzügigen Unternehmens wird den Kapitalmarkt der Union künftig
für Investierungen in Auslandseisenbahnen leichter als früher zugänglich machen, da
sich ihr Arbeitsgebiet gerade auch auf die Finanzierung und den Bau von Eisenbahnen
im Auslande erstreckt. Ein größerer Vorstoß wurde während des Krieges von den
Amerikanern in China gemacht, wo die American International
Corporation 1916 eine Reihe wichtiger Eisenbahnkonzessionen im Süden des
Landes erwarb und die Sieurs-Carey Railway & Canal
Co. den Bau der Szetschuan-Bahn begonnen hat. Trotzdem haben die Amerikaner die
günstige Gelegenheit, die sich ihnen in China während des Krieges bot, nicht so
ausgenutzt wie es möglich gewesen wäre. Ihr Hauptinteresse richtet sich heute auf
Rußland und Sibirien. In dem zukunftsreichen
Sibirien, dessen wirtschaftliche Erschließung Amerika
offenbar als sein Vorrecht betrachtet, haben die Amerikaner bereits zahlreiche
bedeutende Eisenbahnprojekte entworfen oder ausgeführt, und der Ausbau des
sibirischen Bahnnetzes scheint ganz amerikanische Angelegenheit geworden zu sein.
Nach neuesten Nachrichten aus russischen Quellen haben die Amerikaner kürzlich die
Transsibirische Bahn unter ihre Leitung genommen, und jetzt scheinen sie auch im
Sowjet-Rußland England und Frankreich im Wettbewerb um die Ausbeutung der russischen
Wirtschaftsmöglichkeit zuvorgekommen zu sein, indem nach Berichten aus Kopenhagen
ein amerikanisches Finanzsyndikat von der Regierung Lenins neben anderen Konzessionen das Recht erwarb, Eisenbahnlinien in
Länge von 3000 Werst im Norden Rußlands anzulegen, um Sibirien mit der Murmanbahn
und Petersburg zu verbinden. Auch auf Vorderasien, wo es ja noch sehr an Eisenbahnen
fehlt, haben die Amerikaner ihre Aufmerksamkeit gerichtet, und Anfang dieses Jahres
wurde in New York mit 100 Mill. Dollar ein Unternehmen gegründet, welches den Bau
und Betrieb von Bahnen in Persien bezweckt, also in einem
Lande, wo England die größten Interessen hat. Es heißt, daß der Morgan-Konzern das
Unternehmen organisiert und daß der frühere Finanzminister Persiens, Shuster, ihm nahesteht. Die Höhe des Kapitals läßt darauf
schließen, daß man sich bei der eigenen Regierung des Schutzes der zu schaffenden
Interessen versichert haben wird, auch dann, wenn diese mit den englischen
zusammenstoßen sollten. Nicht zuletzt dürfte sich ferner in Mittel- und Südamerika
ein geeignetes Feld für die amerikanische Konkurrenz Englands in der Finanzierung
von Eisenbahnbauten bieten, da die Amerikaner die dortigen Märkte heute
wirtschaftlich mehr als je unter ihren Einfluß gebracht haben. Die nach der
„Times“ vom 18. 5. 1919 geplante Ueberlassung brasilianischer und anderer
südamerikanischer Werte durch England und Frankreich an die Union als Garantie für
die Ententeschulden würde diesen Einfluß noch erheblich verstärken.
Die britischen Finanzkreise, die in ihrer freien Betätigung, so weit Kapitalanlagen
im Auslande in Betracht kommen, noch immer durch die staatliche Kontrolle behindert
sind, verfolgen mit Argusaugen das Auftreten der Amerikaner als Geldgeber auf dem
internationalen Markt. Aber England ist auf lange hinaus nicht in der Lage, in
überseeische Eisenbahnunternehmungen etwa die Summen
hineinzustecken wie vor dem Kriege. Amerika ist finanziell ihm gegenüber entschieden
im Vorteil und die Großbanken in New York sind von dem Ehrgeiz beherrscht, die Rolle des Weltbankiers selber zu übernehmen. Der
Ausbau des Welteisenbahnnetzes wird jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach in den
nächsten Jahren langsamer vor sich gehen als vor dem Kriege, da die Vereinigten
Staaten kaum den Ausfall voll werden decken können, der durch die finanzielle
Erschöpfung des alten Europa und insbesondere Englands entstehen muß.