Titel: | Die Mathematik als Grundlage der Technik. |
Fundstelle: | Band 334, Jahrgang 1919, S. 161 |
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Die Mathematik als Grundlage der
Technik.
Rede gehalten bei der Rektoratsübergabe an der
Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg am 1. Juli 1919.
Von Prof. Dr. E. Jahnke, Geh. Bergrat.
JAHNKE: Die Mathematik als Grundlage der Technik.
. . . . Akademischer Sitte entspricht es, einen Gegenstand der Wissenschaft, der
meine Lebensarbeit gewidmet ist, zum Mittelpunkt meiner Antrittsrede zu machen. Da
es aber nicht leicht sein dürfte, Ihre Aufmerksamkeit für ein rein mathematisches
Thema zu fesseln, will ich einen Gegenstand herausgreifen, der auf die Beachtung
weitester Kreise Anspruch erheben darf. In diesen Tagen Ist der Ruf nach
Umgestaltung der Technischen Hochschulen erklungen und insbesondere die Forderung
erhoben werden, die Vorlesungen über Mathematik und Mechanik neu zu orientieren. In
diesem Sinne will ich über die Mathematik als Grundlage der
Technik sprechen.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte sich zwischen Mathematik und Technik ein mehr
oder minder schroffer Gegensatz herausgebildet. Der Mathematiker war durch die
vielen Probleme, die dem 19. Jahrhundert zur Lösung anheimfielen, so völlig in
Anspruch genommen, daß er die Anwendungen auf die Praxis stark vernachlässigte. Auf
der anderen Seite wurde der Techniker durch die rauhe Wirklichkeit vor Fragen
gestellt, die dringend Beantwortung heischten. Da die mathematischen Theorien,
vornehmlich in der Elastizitätslehre und in der Hydraulik, den tatsächlichen
Verhältnissen vielfach nicht entsprachen, sah sich der Techniker auf den Versuch
angewiesen und gewöhnte sich, in ihm allein die Quelle allen technischen
Fortschritts zu erblicken. Und als dann bei den Mathematikern, nachdem sie die
Theorie der elliptischen, der abelschen und der automorphen Funktionen, nachdem sie
die allgemeine Funktionentheorie, die Theorie der Differentialgleichungen und die
höhere Algebra zu einem gewissen Abschluß gebracht, als dann – sage ich – bei den
Mathematikern der Sinn für die Anwendungen wieder erwachte und mit wachsendem
Nachdruck der Wunsch hervortrat, sich den Anforderungen, von Physik und Technik
zu nähern, machten sich auf technischer Seite Strömungen geltend, die auf
Einschränkung der grundlegenden, insbesondere der mathematischen Studien hinzielten.
Heute, wo wir rückschauend eine gewisse Distanz zu jenen Strömungen gewonnen haben,
kann man zugeben, daß die Antimathemätikbewegung durchaus berechtigt war. Zwar hatte
die Reformbewegung, die um 1900 etwa einsetzte, es erreicht, daß neben der reinen
Mathematik die sogenannte angewandte Mathematik aufgetan
wurde. Indessen ließen diese Anwendungen – das kann man wohl heute ruhig sagen –
keinen Hauch technischen Geistes verspüren. Der Mathematiker war eben noch immer
nicht in die Sprache des Ingenieurs eingedrungen. Und so haben Mathematiker und
Techniker, die in jenen Zeiten hoher Erregung das Wort ergriffen haben, einfach
aneinander vorbeigeredet, weil die beiden unter Anwendungen grundsätzlich
Verschiedenes verstanden.
Inzwischen haben sich die Wogen der Erregung geglättet. Die Mathematiker haben große
Anstrengungen gemacht, um den berechtigten Wünschen der Techniker entgegenzukommen.
So sind neue Gebiete, das große Gebiet der numerischen und graphischen Methoden, das
Gebiet der Nomographie, der harmonischen Analyse und das der Vektoranalysis
entstanden. Der Mathematiker hat begriffen, daß es mit dem Aufsuchen einer Methode
zur Berechnung der gesuchten unbekannten Größe nicht getan ist, daß hiermit seine
Aufgabe nicht erschöpft sein darf, denn die Ingenieure sind gezwungen, die
zahlenmäßigen Werte, die sich aus den mathematischen Rechnungen ergeben, wirklich zu
berechnen, „und indem sie das tun, werden sie vor die Frage gestellt, ob sich
dasselbe Ergebnis nicht auf kürzerem Wege oder mit geringerer Mühe erreichen
läßt“. Besonders dann, wenn es sich nur um angenäherte Werte handelt! Zur
vollständigen Lösung einer Aufgabe ist es daher notwendig, ein Verfahren anzugeben,
das mit dem geringsten Aufwand an Zeit und Mühe zur Lösung führt. Es ist wie in der
Technik selber: In vielen Fällen ist der erste Schritt zur Erfindung einer Maschine
nicht beträchtlich. Was aber Schwierigkeiten bereitet, ist der weitere Schritt, den
wissenschaftlichen Gedanken zur lebensfähigen brauchbaren Form auszugestalten, den
Erfindergedanken in eine betriebsmäßige Maschine umzusetzen. So auch hier. Die
Methoden der Approximationsmathematik und die vektoranalytischen Methoden; müssen immer weiter und immer weiter ausgebildet
werden, um den Forderungen des Ingenieurs entgegenzukommen. Und es ist notwendig,
daß der Mathematiker diese Aufgabe auf sich nimmt, schon
im Interesse einer Oekonomie in der Wissenschaft. Der Physiker und Astronom, der
Ingenieur, der Geodät werden ihre Aufmerksamkeit nur auf die Ergebnisse richten und
daher geneigt sein, die Verallgemeinerung ihrer Methoden, ihre Umdeutung auf andere
Gebiete und ihre Anwendbarkeit auf andere Probleme zu vernachlässigen. „Die
Methoden des Ingenieurs und des Geodäten werden in vielen Fällen dem Physiker
und Astronomen unbekannt bleiben und umgekehrt, obwohl die Probleme, mit denen
beide Gruppen zu tun haben, mathematisch beinahe identisch sein
können“.Vergl. C. Runge,
Graphische Methoden, Nr. 18 der Sammlung math.-phys. Lehrbücher,
herausgegeben von E. Jahnke, S. 1, 2; Leipzig 1915, B. G.
Teubner.
Was der mathematischen Behandlung von Problemen eine besondere Wichtigkeit verleiht,
ist eben ihr umfassender Charakter. Eine mathematische Theorie, die über die
Schwingungen eines Pendels unter der Einwirkung einer periodischen Störung Auskunft
gibt, bleibt bestehen, mag der oszillierende Körper eine Panzerplatte, ein Gebäude
oder ein Elektron sein, mag die störende Kraft die Welle des Atlantik, eine doppelt
wirkende Viertakttandemmaschine oder der elektrische Stoßimpuls sein, der in einer
Sekunde billionenmal auftrifft. So gibt die Theorie z.B. Rechenschaft von einer
Erscheinung, die zuerst in der Akustik beobachtet worden ist, der Resonanz.
Wohlbekannt ist der Versuch mit den beiden Stimmgabeln, die auf denselben Ton
abgestimmt sind. Schlage ich die eine an, so wird die andere, falls sie in der Nähe
steht, mitschwingen und anfangen zu tönen. Der Grund, weshalb die Metalle in der
Sonnenatmosphäre durch Absorption dunkle Linien im Spektrum geben, ist wieder
derselbe. Nach dem Kirchhoffschen Gesetz absorbiert das
Gas aus dem Aether Wellen derselben Periode, die es fähig ist, dem Aether
mitzuteilen. Einen besonderen Triumph hat die mathematische Theorie in den
Resonanzerscheinungen der drahtlosen Telegraphie gefeiert.Vergl. Mathematische Forschung und Technik,
Rede gehalten am 21. 1. 1910 an der ehemaligen Berliner
Bergakademie.
Diese Umdeutung einer und derselben mathematischen Aussage auf die Lösung mehrerer
physikalischer und technischer Probleme, die scheinbar nichts miteinander gemein
haben, kommt in den Anwendungen der mathematischen Analysis häufig vor: Der Baron
Fourier ließ sich nicht träumen, daß seine Analysis
des Wärmeproblems auch genügen würde, um festzustellen, wie schnell Signale durch
ein atlantisches Kabel gesandt werden können. Es ergibt sich eben dieselbe partielle
Differentialgleichung, ob ich die Ausbreitung der Wärme in einem Stabe untersuche
oder nach der Ausbreitung einer elektrischen Störung in einem Kabel frage. Und aus
derselben Differentialgleichung las der ungarische Amerikaner Pupin die Abstände ab, in denen Drahtspulen mit hoher Selbstinduktion
anzubringen sind, um die Lautübertragung durch Kabel zu verbessern.
Die Methoden nun, die in neuester Zeit eine besondere Pflege und Ausbildung
seitens der Mathematiker erfahren haben, sind – wie schon vorhin erwähnt – einmal
die graphischen Methoden, die uns im Rechenschieber und Planimeter wohl bekannt
sind, die sich im Geschwindigkeits- und Beschleunigungsdiagramm, im Indikator- und
im Tangentialdruckdiagramm sowie in der graphischen Statik wohl bewährt haben, und
die jetzt auch für die Integration von Differentialgleichungen fruchtbar gemacht
worden sind. Andere Methoden, denen die Technik wachsende Aufmerksamkeit schenkt,
sind die Methoden der Nomographie sowie die Methoden der Vektoralgebra und der
Vektoranalysis, deren Siegeszug durch die Mechanik und Elektrodynamik nicht mehr
aufzuhalten ist. Von Mathematikern wie Möbius, Graßmann und
Hamilton begründet, von Physikern wie Maxwell
und Heaviside weiter ausgebildet, haben die
vektoranalytischen Begriffe und Operationen, besonders durch die Schriften von
Technikern wie Föppl und Emde,
eine wachsende Verbreitung in der Technik gefunden.
Die steigenden Anforderungen, die in der Praxis an den Beruf des Technikers gestellt
werden, zwingen zu einer Vertiefung seiner mathematischen Vorbildung und zu einer
Schulung in der reinen Mathematik, um ihm die erforderliche Sicherheit in ihrer
selbständigen Anwendung zu geben. Ein Blick in die Handbücher, die er zu Rate zieht,
lehrt, daß ein Techniker von heute ein mathematisches Rüstzeug und ein
mathematisches Wissen besitzen muß, wie man solches vor noch nicht gar so langer
Zeit nicht bei allen Berufsmathematikern finden konnte.
Es verdient hervorgehoben zu werden, daß in neuerer Zeit die Zahl der Techniker in
bemerkenswertem Aufstieg begriffen ist, die das mathematische Rüstzeug durchaus
beherrschen. Diese haben ihrerseits zur Lösung von technischen Aufgaben beigetragen,
die ohne tiefergehende mathematische Kenntnisse nicht zu erledigen waren; sie haben
sich auch selber an der Ausgestaltung der graphischen Methoden, z.B. der graphischen
Integration von Differentialgleichungen beteiligt. Andere Techniker sind
mathematisch wenigstens so weit vorgebildet, daß sie imstande sind, den
Mathematikern genau formulierte Aufgaben zur Lösung vorzulegen. Es ist sicher kein
Zufall, daß die von Kneser und mir im Jahre 1901
gegründete Berliner Mathematische Gesellschaft den Vorzug
genießt, eine beträchtliche Zahl von Technikern zu ihren Mitgliedern zu zählen. Und
weit davon entfernt, daß der Ingenieur, der vom Mathematiker die Lösung eines
Problems verlangt, ihm damit eine Last auferlege, er darf des Dankes von Seiten des
Mathematikers versichert sein.
Auf Grund dieser Sachlage ist nun neuerdings die Forderung erhoben worden, die
wissenschaftliche Ausbildung des Ingenieurs zu vertiefen und ihm andererseits durch
weitere Zuschärfung der mathematischen Methoden auf praktische Aufgaben Zeit zu
ersparen, die Forderung, das mathematische Denken mit dem technischen Denken zu
verknüpfen, um dem Machschen Gesetz von der Oekonomie
geistiger Arbeit gerecht zu werden.
Es entsteht daher die Frage, ob der mathematische Unterricht an den Technischen
Hochschulen umgestaltet werden muß, oder ob er den gestellten Anforderungen bereits
genügt, ob er mit der Erziehung zum mathematischen die Erziehung zum technischen
Denken verknüpft, oder ob er auch heute noch beides von einander trennt. Wenn ich im
folgenden zu dieser Frage Stellung nehme, so möchte ich, um von vornherein
Mißverständnisse auszuschließen, betonen, daß meiner Ueberzeugung nach wahrer
Fortschritt, daß durchgreifende technische Verbesserungen nur durch ernstes Studium
der Naturwissenschaften und der Mathematik möglich sind, daß die wissenschaftliche Forschung
– sei es die physikalische, chemische oder mathematische – die Grundlage aller
Industrie und Technik ist.
Die meisten Mathematiker meinen schon eine Anwendung gemacht zu haben, wenn sie die
Begriffe und Formeln der Infinitesimalrechnung auf die Kurven- und Flächentheorie
angewandt haben. In der Mehrzahl der Lehrbücher der Analysis findet man daher die
Auffassung vertreten, daß die altehrwürdigen geometrischen Anwendungen die
wichtigsten und lehrreichsten Anwendungen der Infinitesimalrechnung seien. Kommen
diese Werke der eigenartigen Ausbildung der Studierenden an Technischen Hochschulen
entgegen, die doch lernen sollen, das mathematische Rüstzeug auf Fragen der
technischen Mechanik, auf Fragen der Maschinentechnik, anzuwenden? Ich darf es wohl
als einen allgemein anerkannten Grundsatz hinstellen, daß an den Technischen
Hochschulen die theoretischen Fächer nicht allein um ihrer selbst willen, sondern
stets im Hinblick auf ihre technische Verwendbarkeit gelehrt werden müssen.Vergl. E. Müller, Geschichte der darstellenden
Geometrie. Vortrag vom 15. 12. 1917. Z. des Oesterr. Ing.- u.
Archit.-Vereins 1919, Heft 10, 12, 13, 17. Daraus folgt für den
mathematischen Unterricht die Forderung, mit dem mathematischen Denken das
technische Denken zu verknüpfen.Vergl. M.
Kloß, Der Allgemeinwert technischen Denkens. Rede gehalten beim Antritt des
Rektorats an der Technischen Hochschule Berlin, 1. Juli 1916.
Alsdann bleibt aber nichts anderes übrig, als Mathematik und
Mechanik in einer einzigen Vorlesung, die vom Mathematiker gehalten wird,
zusammen zu lehren. Die Anwendungen des mathematischen Rüstzeugs auf die
elementaren Begriffe und Sätze der Mechanik sowie auf die Maschinenelemente der
Technik müssen früh geübt werden. Man darf nicht warten, bis diese Anwendungen erst
im dritten und vierten oder gar erst im fünften und sechsten Semester gebracht
werden, Anwendungen, die doch zum täglichen Brot des Technikers gehören. Und die
Umdeutung mathematischer Formeln in Ergebnisse der technischen Mechanik muß vom Mathematiker gebracht werden, der wieder und immer wieder
den Blick des Studierenden auf die Zusammenhänge zwischen Mathematik und Technik zu
lenken nicht müde werden darf. Dabei wird vorausgesetzt, daß
sich diese Vorlesung über Mathematik und Mechanik nicht auf zwei Semester
beschränken, sondern durch alle Semester hindurchlaufen soll. Und wenn die
Zahl der Vorlesungsstunden für Mathematik und Mechanik in den beiden ersten
Semestern auf sechs festgesetzt würde, könnte man für die folgenden Semester mit je
einer zweistündigen Vorlesung auskommen. Es ist nicht zu leugnen, daß bei einer
solchen Neuregelung der Umfang des rein mathematischen Programms in den beiden
ersten Semestern gegen früher abnehmen würde. Einen Ersatz dafür dürfte eben die
bessere, vielseitigere Durchdringung der mathematischen Grundgedanken bieten, die
vermehrte Gelegenheit, die neuen Begriffe und Formeln der Infinitesimalrechnung
unmittelbar auf Beispiele und Fragen der Kinematik und Dynamik anzuwenden,
insbesondere sie zur Lösung von Aufgaben aus der Maschinentechnik zu verwerten. Der
Studierende wird dadurch frühzeitig auf die leitenden Zusammenhänge hingewiesen und
davor bewahrt, sich in einseitiger Theorie zu verlieren und das bloße Rechnen ohne
Kenntnis der Wirklichkeit zu überschätzen. Alsdann ist es selbstverständlich, daß
Existenz- und Stetigkeitsbeweise, daß Differentialgleichungen von anderer Form als
die bekannte Schwingungsgleichung, daß die Eulerschen
Differentialgleichungen für die Bewegung des Kreisels, das Hamiltonsche Prinzip, Vektoranalysis und ähnlich schöne Dinge in den
beiden ersten Semestern zurückzutreten haben vor der Notwendigkeit, die Studierenden
mit den Prinzipien und Methoden der Infinitesimalrechnung und den Grundbegriffen der
Mechanik derart vertraut zu machen, daß sie mit ihnen umzugehen verstehen und davon
Gebrauch zu machen wissen bei der Behandlung von Fragen aus der Bau-, Maschinen- und
Fördertechnik. Eine solche Einrichtung würde im übrigen keine Neuheit darstellen.
Bereits im Jahre 1905 wurden an der ehemaligen Berliner Bergakademie und an der
Bergakademie Clausthal für die Studierenden des Berg- und Hüttenfachs Vorlesungen
der eben gekennzeichneten Art eingeführt.
Die in den höheren Semestern anzusetzenden Vorlesungen
über Mathematik und Mechanik hätten nachzutragen, was der Techniker von Fourierschen Reihen, von Vektoranalysis und
Differentialgleichungen, von Besselschen und elliptischen
Funktionen, was er aus der Theorie der Schwingungen und der Resonanzerscheinungen
und was er aus der Kreiseltheorie wissen muß. Und diese Durchdringung der reinen
Mathematik mit den Anwendungen auf die Wirklichkeit wäre auch von den übrigen
mathematischen Vorlesungen zu verlangen, die an den Technischen Hochschulen zur
Fortsetzung der Grundfächer und Einführung in die höheren Gebiete gehalten werden.
Der Mathematiker müßte dann allerdings fordern, daß Mathematik
auch in die Hauptprüfung aufgenommen würde.
Zu allen Vorlesungen müssen aber noch Uebungen hinzutreten und zwar so viel Uebungen
wie möglich. Der Hochschulunterricht ist ja – was den Erfolg bei den Hörern angeht –
von vornherein im Nachtfeil gegen den Mittelschulunterricht, da dort ein so
unmittelbarer Kontakt wie hier nicht durchführbar ist. Es muß jedoch äffe dringend
wünschenswert bezeichnet werden, daß auch der Hochschullehrer so weit wie möglich in
Fühlung mit seinen Hörern zu kommen suche. Gerade der mathematische Vortrag läuft ja
leicht Gefahr, trocken und langweilig zu werden – jedenfalls ist sein Ruf nicht der
allerbeste. Das muß unter allen Umständen vermieden werden. Eines der Mittel, deren
sich der Hochschulunterricht bedienen muß, um diese Gefahr nach Möglichkeit zu
verringern, bieten eben die Uebungen, die, richtig gehandhabt, ein vortreffliches
Mittel sind, sich zu überzeugen, wie viel von dem Vortrag mit Verständnis
aufgenommen ist und wie viele der Studierenden dem Vortrage haben folgen können. Und
an vielen Stellen ist man erfreulicherweise bereits dazu übergegangen, die Uebungen
in den ersten Semestern seminaristisch auszugestalten.
Der eben hervorgehobene Nachteil des Hochschulunterrichts würde noch stärker in die
Erscheinung treten, wenn einer, die Mittelschulen betreffenden Forderung
stattgegeben würde, die ebenfalls neuerdings erhoben worden ist und zahlreiche
Fürsprecher gefunden hat. Die Forderung geht dahin, die
Oberprima von den Mittelschulen abzusondern, damit der Abiturient ein Jahr
früher die Hochschule beziehen kann. Bei einer solchen Neuordnung wäre allerdings zu
erwägen, ob man nicht dem gesamten Unterrichtsbetrieb in den ersten Semestern eine straffere Form geben und ihn
seminaristisch ausgestalten solle, um die Gefahren eines gar zu unstetigen
Ueberganges von der Mittel zur Hochschule zu vermindern. Dieser Plan schlösse außer
dem Vorteil einer Zeitersparnis für den jungen Menschen den weiteren in sich, daß
ihm die Infinitesimalrechnung nur einmal, nämlich in den beiden ersten Semestern auf
der Hochschule, vorgetragen würde. Bei dem jetzigen Zustande erfährt er bereits in
der Oberprima, wenigstens der Realanstalten, einiges aus der Differential- und
vielleicht auch aus
der Integralrechnung, kommt an die Hochschule häufig mit der Vorstellung, daß ihm
die Vorlesung über Infinitesimalrechnung nichts neues bieten könne, und findet
hierin eine ausreichende Entschuldigung für das Schwänzen der Vorlesung.
Und da ich einmal von den Realanstalten rede, auf denen doch naturgemäß unsere
Studierenden ihre Vorbildung erhalten sollten, so wäre die weitere Forderung zu
stellen, daß die darstellende Geometrie eine stärkere Betonung finde, in dem Sinne
etwa, daß darstellende Geometrie bereits von der Untersekunda an zweistündig und
obligatorisch gelehrt und geübt würde, und zwar vom Mathematiklehrer und nicht vom
Zeichenlehrer. Das hätte für die Hochschule den weiteren Vorfeil, daß die jungen
Leute bereits mit einer gewissen Raumanschauung und einem gewissen Maß
zeichnerischer Fertigkeit an die Hochschule kämen. Nebenbei bemerkt, wäre es auch
für die jungen Leute, die nicht zur Hochschule übergehen, sondern den kaufmännischen
Beruf ergreifen, sicher kein Schade, wenn ihre Raumanschauung ausgebildet würde.
Es soll an dieser Stelle gern anerkannt werden, daß die Reformbewegung an den
vorbereitenden Schulen einen frischen Zug in die Entwicklung des mathematischen
Unterrichts gebracht hat. Das Ziel des mathematischen Unterrichts wird nicht mehr
unter dem alleinigen Gesichtspunkt der logischen Disziplin betrachtet. In den
unteren Klassen tritt dieser Gesichtspunkt zugunsten der Entwicklung des
Anschauungsvermögens zurück, und in den oberen Klassen wird der Funktionenbegriff
gepflegt und die analytisch-geometrische Darstellung ausgiebig geübt. Indessen kann
nicht geleugnet werden, daß diese Reformbewegung vorerst nur an einem großen Teil
der Realanstalten durchgedrungen ist. Und wenn auch heute der Ausspruch des
Dichteringenieurs Max EythMax Eyth, Ein kurzgefaßtes Lebensbild mit
Auszügen aus seinen Schriften von Dipl.-Ing. C. Weihe, Berlin 1916, Verein deutscher Ingenieure, S.
54.: „Die klassische Schulbildung lehrt, in der Welt der Gedanken zu
leben und die anstößigen Tatsachen der Wirklichkeit nötigenfalls beiseite zu
schieben“, wohl nicht mehr zu Recht besteht, so ist es doch nicht
überflüssig auszusprechen: Es wäre hohe Zeit, daß jeder Gebildete zu erkennen
vermöchte, daß in einer Lokomotive, in einem elektrisch bewegten Webstuhl, in einer
Dynamomaschine, in einem Walzwerk mindestens ebensoviel Geist steckt wie in der
zierlichsten Redewendung des Marcus Tullius Cicero oder in dem schönsten Hexameter
des poeta laureatus VirgilM. Eyth, a. a. O., S.
78.. Daß diese Erkenntnis sogar bei Manchen unserer klassischen
Philologen bereits zu finden ist, dafür möchte ich zum Beweise einen ihrer
hervorragendsten Vertreter von der Berliner Universität anführen, von dem das
ausgezeichnete Büchlein herrührt „Die antike Technik“.Diels, Die antike Technik, Leipzig, B. G.
Teubner.
So lange wir uns mit der Dreiteilung unserer vorbereitenden Schulen in
Oberrealschulen, Realgymnasien und Gymnasien abzufinden haben, wäre es daher
durchaus berechtigt, den Gymnasialabiturienten, die sich der Technik zuwenden, eine
Bescheinigung abzufordern, daß sie die fehlenden Kenntnisse in Mathematik und
darstellender Geometrie nachgeholt hätten, wie ja auch die Abiturienten der
Oberrealschule, die sich dem Studium der Medizin widmen wollen, gezwungen werden,
eine Bescheinigung über ein nachträgliches Lateinstudium zu erbringen. Wir würden
dadurch den Vorteil erreichen, daß wir bei unseren Studierenden nahezu die gleiche Ausbildung bei ihrem Eintritt in die Technische
Hochschule voraussetzen dürften.
Wird aber die Notwendigkeit zugestanden, den mathematischen Unterricht an den
Technischen Hochschulen nach der Richtung hin umzugestalten, die dem Wesen
einer Technischen Hochschule entspricht, die mit dem mathematischen Denken das
technische Denken verknüpft, dann muß man der weiteren Folgerung zustimmen, daß die
Ausbildung der Mathematiker für die Technischen Hochschulen – ich will sie kurz die
technischen Mathematiker nennen – auf den Technischen
Hochschulen zu erfolgen hat. Es muß zwar anerkannt werden, daß eine und die andere
Universität einen Anlauf gemacht hat, um den Anforderungen, die die Technischen
Hochschulen an die Ausbildung ihrer mathematischen Lehrer stellen müssen, gerecht zu
werden. Indessen wird man heute wohl oder übel zugestehen müssen, daß die Bemühungen
der Universitäten zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt haben. Es bedeutet daher
keinen Gegensatz zur Universität, sondern nur eine natürliche Ergänzung, wenn die
Technischen Hochschulen sich nunmehr selber der Ausbildung der technischen
Mathematiker annehmen. Ja, man muß sagen, bei den besonderen, den Technischen
Hochschulen eigentümlichen Aufgaben erwächst ihnen geradezu die Pflicht, für eine
Ausbildung technischer Mathematiker Sorge zu tragen. Es handelt sich dabei um die
Lehramtskandidaten, aus deren Mitte die Mathematiklehrer für die technischen
Mittelschulen und der Nachwuchs an Professoren der Mathematik für die Technischen
Hochschulen hervorgehen sollen. Da der technische Mathematiker, wie ich immer betont
haben möchte, in erster Linie Mathematiker sein muß, so
ergibt sich die Forderung, die allgemeine Abteilung an den Technischen Hochschulen
so weit auszubauen, daß sie dem Studierenden der technischen Mathematik Gelegenheit
zu seiner vollen Ausbildung bietet. Denn die Universität – ich spreche hier
besonders von Städten, wo beide Hochschularten vertreten sind – läßt ihn bei einer
ganzen Reihe mathematischer Gebiete, die für den Techniker von wachsender Bedeutung
sind, im Stich. Dazu gehören u.a. die Fourierschen Reihen
und die harmonische Analyse, die Besselschen Funktionen,
die partiellen Differentialgleichungen, Vektoranalysis und Uebungen im numerischen
Rechnen mit den bekannten Transzendenten. Im Sinne dieser Ausbildung würde es auch
liegen, wenn als Privatdozenten für Mathematik und Mechanik an den Technischen
Hochschulen nur technische Mathematiker zugelassen würden. Die Stätte, wo die reine
Mathematik frei von allen Beschränkungen getrieben und gelehrt werden kann, ist die
Universität lind soll es bleiben. So wird es möglich sein, daß jede der beiden
Hochschularten ihrer Eigenart entsprechend auf ihrem Wege fortschreiten kann.
Die Schwierigkeiten für die Verwirklichung der angedeuteten Umgestaltung des
mathematischen Unterrichts an den Technischen Hochschulen liegen in der Beschaffung
der geeigneten Lehrkräfte für die Uebergangszeit. Diese Schwierigkeiten sind nicht
gering. Sicherlich ist nicht jeder Mathematiker zum Unterricht von Ingenieuren
geeignet. „Er muß nicht allein ein Mathematiker durch natürliche Veranlagung und
sorgfältige Ausbildung sein, er muß vielmehr auch Teilnahme für die
eigentümliche Denkweise der Ingenieure und Verständnis für deren mathematische
Bedürfnisse besitzen.“P. Stäckel,
Die mathematische Ausbildung der Ingenieure in den verschiedenen Ländern.
Jahresb. D. M. V. 23, 167, 1914. Bei der Berufung geeigneter
Lehrer wäre darauf hinzuwirken, daß der Mathematiker Sorge trage, sich mit dem
fachlichen Vorstellungskreise seiner Zuhörer, ihren Arbeitsmethoden in den
verschiedenen Fachgebieten bekannt zu machen. Es würde für den Erfolg seines
Unterrichts nur von Nutzen sein, wenn er selber einmal an den Uebungen im
Maschinenlaboratorium teilgenommen hat, wenn er z.B. in der Handhabung eines
Indikators Bescheid weiß, Einrichtung und Verwendung der verschiedenen Bremsen von
Augenschein kennt, die Bestimmung der Leistung und den Kraftbedarf einer
Kreiselpumpe einmal selbst vorgenommen hat. Dabei bietet sich dem Ingenieur eine
Gelegenheit, auch seinerseits dem Mathematiker gegenüber sein Entgegenkommen zu
betätigen. Es würde nämlich dem Mathematiker seine Aufgabe erleichtern, wenn er
Gelegenheit fände, an den Studienreisen teilzunehmen, die von dem Ingenieur zusammen
mit den Studierenden unternommen werden, oder an Studienreisen, die der eine oder
andere Ingenieur zur eigenen Ausbildung unternimmt.
Für eine angemessene Auswahl der Uebungsaufgaben würde dem Mathematiker zu empfehlen
sein, auch technische Zeitschriften einzusehen, so die Zeitschrift des Vereines
Deutscher Ingenieure, die Zeitschrift für das gesamte Turbinenwesen, Elektrotechnik
und Maschinenbau, Dinglers Polytechnisches Journal, und die laufenden Nummern
daraufhin zu verfolgen, welche Aufgaben und Beispiele er für die Uebungsstunden
verwerten kann.
Besonders günstig für den Mathematiker lagen die Verhältnisse an der ehemaligen
Berliner Bergakademie, wo die eben genannte Einrichtung für Studienreisen schon seit
dem Jahre 1905 ausgebildet worden ist. Bei der Angliederung der Bergakademie an die
Technische Hochschule ist sie beibehalten worden. Hier hat der Mathematiker sogar
Gelegenheit gefunden, im Verein mit Ingenieuren, auf einer großen Zahl von
Schachtanlagen im Oberschlesischen Revier die kinematischen Verhältnisse des
Förderbetriebes messend zu verfolgen. Diese Untersuchungen haben zum Bau eines
vertikalen und eines Dreh-Beschleunigungsmessers geführt, die die
Beschleunigung des Korbes bzw. der Welle des Motors selbsttätig aufzeichnen. Und
diese Untersuchungen haben auf den Vortrag über Mathematik und Mechanik befruchtend
und belebend zurückgewirkt.
Der Vortrag eines Mathematikers, dessen Auge in dieser Weise geschärft ist durch
technische Sachkenntnis, wird sich naturgemäß dem Vorstellungskreise und dem
Auffassungsvermögen der Studierenden besser anschmiegen als der Vortrag des reinen
Mathematikers, der die Verbindungsbrücken verschmäht, die von der Mathematik zur
Technik hinüberführen.
Hiermit habe ich eine Reihe von Gedanken über die Ausbildung der Studierenden an
einer Technischen Hochschule in Mathematik und Mechanik entwickelt, wie sie mir dem
Wesen einer Technischen Hochschule zu entsprechen und gleichzeitig den Anforderungen
zu genügen scheint, die die veränderten Wirtschaftsbedingungen unserer Zeit an die
Technischen Hochschulen stellen. In dem gewaltigen Wirtschaftskampfe, vor den sich
nunmehr Deutschland gestellt sieht, wird die Technik unsere schärfste Waffe bilden.
Und es muß mit aller Eindringlichkeit der Sinn und das Verständnis des höchsten
Wirkungsgrades geweckt werden. Diesem Zwecke dienen ja schon die zahlreichen, auf
Organisierung, auf Normalisierung und Typisierung gerichteten Bestrebungen. Und in
dieser Folge der Gedanken wird sich auch die Staatsregierung der Erkenntnis nicht
verschließen können, daß alles Kapital, das für Unterrichtszwecke Verwendung findet,
am besten angelegt ist, da es in dieser Form ein Optimum an Wirkungsgrad erreichen
dürfte . . .