Titel: | Ein neues Verfahren zur Berechnung rotierender Scheiben. |
Autor: | R. Grammel |
Fundstelle: | Band 338, Jahrgang 1923, S. 217 |
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Ein neues Verfahren zur Berechnung rotierender
Scheiben.
Von Prof. Dr. R. Grammel,
Stuttgart.
GRAMMEL, Ein neues Verfahren zur Berechnung rotierender
Scheiben.
Für die Ermittelung der Spannungsverteilung in rotierenden Turbinenscheiben von
beliebigem Profil sind viele NäherungsverfahrenVgl.
etwa A. Stodola, Dampf- und Gasturbinen, 5. Aufl.
Berlin 1922, S. 329–339. entwickelt worden, von denen die meisten
allerdings in der tatsächlichen Durchführung recht umständlich werden. Das
Verfahren, das ich im folgenden mitteile, erstrebt die größte Uebersichtlichkeit und
Einfachheit, die sich bei der Lösung der Aufgabe überhaupt erreichen läßt.
Das wirkliche Scheibenprofil wird, wie bei dem bekannten Verfahren von DonathM. Donath, Die Berechnung rotierender Scheiben und
Ringe, Berlin 1912., durch eine treppenförmige Näherung ersetzt,
sodaß die Scheibe aus lauter ringförmigen Teilscheiben von je gleicher Dicke
aufgebaut erscheint (Abb. 2). In irgend einer solchen
Teilscheibe, für welche aus der Massendichte ρ und der Querkontraktionszahl ν die
beiden Stoffzahlen
(I) \left\{{{\alpha=\frac{\varrho}{8}\,(3+v)}\atop{\beta=\frac{\varrho}{8}\,(1+3\,v)}}\right.
gebildet worden sind, lassen sich, wie aus der Theorie der
Scheiben gleicher Dicke bekannt ist, die radiale und die tangentiale Spannung in der
Entfernung x von der Drehachse bei einer Drehschnelle ω darstellen durch die
Gleichungen
(1) \left\{{{\sigma_r=A+\frac{B}{x^2}-\alpha\,\omega^2\,x^2}\atop{\sigma_t=A-\frac{B}{x^2}-\beta\,\omega^2\,x^2}}\right.
Hiebei sind A und B ein jeder einzelnen Teilscheibe
eigentümliches Zahlenpaar, dessen Wert von den Abmessungen der Scheibe und von den
Randbedingungen, d.h. von der Einwirkung der benachbarten Teilscheiben abhängt. Ist
ferner E der Elastizitätsmodul, so ist die Radialdehnung ε (= Δx : x) gegeben
durch
(2) E ε = σt – νσr.
Es empfiehlt sich, in (1) die Abkürzungen
(II) \left\{{{s=\sigma_r+\alpha\,\omega^2\,x^2}\atop{t=\sigma_t+\beta\,\omega^2\,x^2}}\right.
einzuführen und außerdem
(III) v=\frac{1}{x^2}
zu setzen; dann kommt statt (1)
(3) \left\{{{s=A+B\,v}\atop{t=A-B\,v.}}\right.
Sind bei einer Teilscheibe beispielsweise am Außenrand x1 die Spannungen σr1 und σt1 bekannt, so kennt man nach (II) auch die
Randwerte s1 und t1
daselbst und findet hienach die Werte s und t für alle Punkte dieser Teilscheibe
durch die folgende einfache Konstruktion (Abb. 1).
Man markiere sich auf einer wagerechten Abszissenachse v die Werte v1 und v2, die gemäß
(III) dem Außen- und Innenhalbmesser x1 und x2 der Teilscheibe zugehören, trage über der Abzisse
v1 die Ordinaten s1 und t1 auf und ziehe durch die so
erhaltenen Punkte zwei Geraden von entgegengesetzter Neigung,
die sich auf der Ordinatenachse schneiden; dann stellen diese Geraden
innerhalb des Abszissenbereiches von v1 bis v2 die Spannungsgleichungen (3) dar.
Textabbildung Bd. 338, S. 217
Abb. 1.
In der Tat haben die beiden Geraden (3) den gemeinsamen Punkt mit der Ordinate A auf
der Ordinatenachse (v = 0) und außerdem entgegengesetzte Neigungen (+ B bzw. –
B).
Natürlich könnte die Konstruktion ebenso gut auch vom Innenhalbmesser (v2) zum Außenhalbmesser (v1) fortschreiten.
Um von einer Teilscheibe zur nächstfolgenden überzugehen, muß man die Sprünge Δs und
Δt ermitteln, die die Größen s und t dabei erleiden. Springt die Scheibendicke y
dort um Δy, die Spannung σ1 um Δσr, und greift überdies eine äußere Radialkraft vom
Betrage z auf der Längeneinheit des Kreisumfanges daselbst an (etwa infolge der
Fliehkräfte einer Zwischenschaufelung), so muß – auf die Längeneinheit de Umfanges gerechnet
– als Ausdruck der Stetigkeit der gesamten Radialkraft gelten
(4) yσr + z – (y + Δy) (σr + Δσr).
Textabbildung Bd. 338, S. 218
Abb. 2.
(Diese Gleichung macht die nicht ganz streng berechtigte
Voraussetzung, daß die etwaige Kraft z als gleichmäßig über den ganzen Querschnitt y
+ Δy verteilt gedacht werden dürfe; man wird daher in der nächsten Umgebung solcher
Sprungstellen, an denen Zwischenkräfte z angreifen, von den zu ermittelnden
Spannungen eine große Genauigkeit nicht erwarten dürfen.) Der Sprung Δσt der Tangentialspannung folgt aus der Tatsache, daß
die Radialdehnung ε an der Sprungstelle für beide Scheiben gleich groß sein muß;
dies ist nach (2) nur dann der Fall, wenn der Ausdruck σt – νσr sprungfrei bleibt, also wenn
(5) Δσt = νΔσr
ist. Indem man (4) nach Δσr
auflöst und beachtet, daß gemäß (II) die gesuchten Sprünge von s und t mit den
Sprüngen von σr und σt übereinstimmen – da die Größen αω2x2 und βω2x2 die Sprungstellen stetig durchsetzen –, so
gewinnt man aus (4) und (5) die Sprungwerte
(IV) \left\{{{\Delta\,s=-\frac{\Delta\,y}{y+\Delta\,y}\,\left(\sigma_r-\frac{z}{\Delta\,y}\right)}\atop{\Delta\,t=v\,\Delta\,s.\
\ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ }}\right.
Textabbildung Bd. 338, S. 218
Die Formeln (I), (II), (III) und (IV) in Verbindung mit einer Konstruktion nach
Abb. 1 reichen zur Ermittelung der Spannungen in
einer ganz beliebigen Scheibe aus; die Benützung eines Kurvenblattes (das, wie z.B.
das DonathscheDas Kurvenblatt von
Donath läßt sich wesentlich vereinfachen,
wenn man dort einen quadratischen Abszissenmaßstab einführt. Dann gehen die
Donathschen S-Kurven in eine Geradenschar über, und die D-Kurven werden zu
Hyperbeln mit gemeinsamen Asymptoten. Demgegenüber dürfte der Vorzug des
hier mitgeteilten Verfahrens darin liegen, daß überhaupt nur Gerade
verwendet werden., für bestimmte Stoffzahlen ρ, ν entworfen sein muß und sich dann nur mit gewissen
Umständlichkeiten auf andere Stoffzahlen ρ, ν
übertragen läßt) ist nicht nötig.
Als Beispiel werde eine mit n = 3000 Uml/min. rotierende Stahlscheibe mit dem in Abb. 2 dargestellten und sogleich durch eine
treppenförmige Näherung ersetzten Meridianschnitt gewählt. Die Radialspannung am
Umfange, hervorgerufen durch die Schaufelfliehkräfte, sei σr1
= 100 kg/cm2. Mit ν = 0,3 und dem spezifischen Gewichte γ = 7,85 kg/dm3
findet man
\alpha\,\omega^2=0,327\,\frac{\mbox{kg}}{\mbox{cm}^4},\ \beta\,\omega^2=0,188\,\frac{\mbox{kg}}{\mbox{cm}^4}
und legt sich ein, die Zeichnung Abb.
3 schrittweise begleitendes Rechenschema an, dessen acht erste Spalten
ohne weiteres verständlich und teilweise einfach der Profilzeichnung entnommen sind.
In den nächsten vier Spalten kommen vorerst nur die großgedruckten Ziffern in
Betracht. Da in der Regel der Wert der Tangentialspannung σt1 am Außenrand nicht gegeben ist – statt dessen
wird wohl die Radialspannung am Innenrande vorgeschrieben sein –, so beginnt man in
bekannter Weise mit einem willkürlichen Anfangswert σt1, der zweckmäßig so gewählt wird, daß die zugehörigen Anfangswerte s1 und t1 einander
gleich sind (σt1 = σr1 + αω2x21 – βω2x21.
Dies hat nämlich den Vorteil, daß die s- und t-Gerade für die erste Teilscheibe wagerecht
verlaufend zusammenfallen, daß also ein schiefer Schnitt vermieden wird, wie er
sonst in Anbetracht der Kleinheit des Abszissenbereiches v1 bis v2 der ersten (äußersten)
Teilscheibe zu befürchten wäre. Aus den bei v2
abzulesenden Ordinaten s2 und t2 berechnet man vermöge (II), also mit Hilfe der
fünften und sechsten Spalte, die Spannungen σr2 und
σt2 zur Abzisse v2 und dann vermöge (IV), also mit Hilfe der achten Spalte, die Sprünge Δs
und Δt und trägt diese vier Werte in die zweite Zeile der neunten bis zwölften
Spalte ein. Nachdem die Sprünge auch in der Figur markiert sind, wird die
Konstruktion nach dem in Abb. 1 geschilderten
Verfahren fortgesetzt, und zwar zweckmäßig auf Millimeterpapier, sodann die dritte
Zeile der neunten bis zwölften Spalte berechnet, usw. Schließlich erscheint so in
der letzten Zeile der neunten Spalte der Endwert σr0.
Textabbildung Bd. 338, S. 219
Abb. 3.
Dieser wird jedoch i. a. noch nicht mit der vorgeschriebenen Innenspannung
übereinstimmen. Man überlagert daher in bekannter Weise dem in der neunten bis
zwölften Spalte dargestellten ersten Spannungszustand (herrührend von den
Eigenfliehkräften der Scheibe sowie von der radialen Randspannung σr1 und der willkürlichen tangentialen Randspannung
σt1) einen zweiten Spannungszustand, der in der
nichtrotierenden Scheibe nur von einer beliebigen Tangentialspannung σ't1 am Außenrand allein hervorgerufen wird. Man nimmt
also ω = 0, mithin s ≡ σr und t ≡ σt, und wiederholt das Verfahren mit der
radialen Randspannung Null und mit σ't1 (im
vorliegenden Falle ist σ't1 = 50 kg/cm2 gewählt); so erhält man die kleingedruckten
Zahlen in der neunten bis zwölften Spalte nebst der zugehörigen Konstruktion (s',
t') und dem Endwert σ'r0. Ist vorgegeschrieben die
Innenspannung σ'r0 (als – negative –
Schrumpfungsspannung oder auch einfach, wie im vorliegenden Beispiel, gleich Null),
so muß man sich offensichtlich über den ersten Spannungszustand das
(V) x=\frac{\sigma_{r0}^{\ast}-\sigma_{r0}}{\sigma'_{r0}}
fache des zweiten Spannungszustandes überlagert denken.
Hienach berechne man schließlich noch in der dreizehnten und vierzehnten Spalte die
wahren (mittleren) Spannungen an den Sprungstellen für den vereinigten ersten und
%-fachen zweiten Spannungszustand, d.h. man bilde
(VI) \left\{{{\sigma_r^\ast=\left(\sigma_r+\frac{\Delta\,s}{2}\right)+x\,\left(\sigma'_r+\frac{\Delta\,s'}{2}\right)}\atop{\sigma_t^\ast=\left(\sigma_t+\frac{\Delta\,t}{2}\right)+x\,\left(\sigma'_t+\frac{\Delta\,t'}{2}\right)}}\right.
(die gestrichenen Größen gehören dem zweiten Spannungszustande
an). Etwas besser wäre es natürlich, anstatt der Mittelwerte der Spannungen an den
Sprungstellen die Spannungen für die Mittelabszissen der einzelnen Teilscheiben zu
berechnen, da dort die Spannung der wirklichen Scheibe am genauesten mit der
Spannung der entsprechenden Teilscheibe übereinstimmen wird; die zugehörigen Werte
von s und t kann man hiezu der Figur unmittelbar entnehmen, es müßte aber die dritte
bis sechste Spalte für die Mittelabszissen neu berechnet werden, was sich in der
Regel kaum lohnt, da die Spannungswerte (VI) praktisch schon genau genug sein
dürften.
Das Ergebnis ist (unter Fortlassung der Sternchen) in Abb.
2 über dem Profil aufgetragen.
Wenn das Verhältnis x1/x0 zwischen Außen- und Innenhalbmesser groß ist, so wird die durch (III)
vorgeschriebene Umwandlung insofern unbequem, als, je nach dem gewählten v-Maßstabe,
entweder v1 sehr klein oder v0 unzugänglich groß ausfallen kann. Man umgeht diese
Schwierigkeit dadurch, daß man den Bereich von v1
bis v0 in zwei Bereiche, etwa von v1 bis v' und von v' bis v0 teilt und für jeden der beiden Teilbereiche mit je einem geeigneten
v-Maßstabe die Konstruktion besonders durchführt.