Titel: | Wissenschaft und Werktätigkeit. |
Autor: | K. Schreber |
Fundstelle: | Band 339, Jahrgang 1924, S. 120 |
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Wissenschaft und Werktätigkeit.
Theorie und Praxis.
Von Dr. K. Schreber.
SCHREBER, Wissenschaft und Werktätigkeit.
Wissenschaft und Werktätigkeit.
1. Die werktätigen Ingenieure hegen vielfach Mißtrauen gegen wissenschaftliche
Untersuchungen und andererseits sehen die Vertreter der reinen Wissenschaft gar zu
häufig auf die Leistungen der werktätigen Ingenieure als minderwertig herab. Beide
tun sich gegenseitig Unrecht. Beide Arbeitsgebiete stehen auf derselben Grundlage,
verwerten sie aber in ganz verschiedener Weise.
Der werktätige Ingenieur soll eine ihm von außen gestellte Aufgabe in ganz bestimmter
Zeit, Lieferfrist, lösen und muß dazu die Erfahrung benutzen, wie sie gerade
vorliegt; er darf nicht warten, bis alle zur restlosen Lösung der gestellten Aufgabe
nötigen Erfahrungen gewonnen sind. Dadurch unterliegt er in der Durchführung seiner
Arbeit einem gewissen Zwang, welcher ihm die volle Freiheit nimmt; welcher ihm dafür
aber auch einen augenblicklich erkennbaren Nutzen bringt.
Der Vertreter der reinen Wissenschaft bearbeitet die vorhandenen Erfahrungen,
vermehrt und vertieft sie ganz nach seinem eignen Willen und seiner augenblicklichen
Stimmung, ohne zu fragen, ob diese Fortentwicklung verlangt wird oder nicht, ob sie
irgend jemand einen unmittelbaren Nutzen bringt oder nicht. Er ist in der Wahl
seiner Aufgaben und in der Zeit ihrer Fertigstellung unbehindert und
unbeschränkt.
Diese Freiheit gegenüber dem von ihm zu bearbeitenden Stoff betrachtet der
Wissenschaftler als etwas besonders wertvolles, welches ihm das Recht zu geben
scheint, sich als den höher stehenden einzuschätzen. Umgekehrt mißachtet gar zu oft
der werktätige Ingenieur jede Arbeit, deren Nutzen nicht unmittelbar in die Augen
springt, die sich nicht sofort bezahlt macht; er betrachtet sie als vollkommen
nutzlos und daher erscheint ihm die Tätigkeit des reinen Wissenschaftlers meist als
überflüssig.
Dieser Gegensatz zwischen Werktätigkeit und Wissenschaft besteht schon so lange, wie
beide Geistestätigkeiten nebeneinander bestehen. Wie Plutarch berichtetGerlandt, Geschichte der Physik 1913, Seite 86
und 87., soll sich schon Archimedes nur durch inständiges Bitten
des ihm noch dazu nahe verwandten Königs Hiero haben bewegen lassen, seine
Wissenschaft in den Dienst seiner Vaterstadt bei deren Verteidigung zu stellen.
Schon damals sahen die Philosophen, die Vertreter der reinen Wissenschaft, auf die
Werktätigkeit als eine nur zum Kriegswesen gehörige Kunst geringschätzend
herab. Wie sich die Vertreter der Kriegskunst dafür an den Philosophen rächten,
darüber berichtet allerdings Plutarch nichts. Wahrscheinlich werden sie den
Philosophen mit gleichet Münze gezahlt haben.
Noch in anderer Beziehung ist ein Unterschied zwischen Wissenschaftler und
Werktätigem vorhanden, ein ähnlicher wie zwischen Dichter und Schauspieler. Von
diesem sagt Schiller: Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze. So hat auch der
Ingenieur erfahrungsgemäß von der Nachwelt keinen Kranz zu erwarten. Wer weiß etwas
von den Ingenieuren, welche die von Archimedes ersonnenen Kriegsmaschinen ausgeführt
haben? Wer kennt außerhalb der unmittelbaren Fachkreise einen Eugen Langen, einen
Riedler? Aber er hat mit dem Schauspieler und noch mehr als dieser gemein, daß er
mit der Gegenwart geizen kann; er kann sich seine Arbeit von seinem Auftraggeber
bezahlen lassen, denn er hat einen Auftraggeber. Der Wissenschaftler, der sich seine
Aufgabe selbst stellt, hat keinen Auftraggeber, der ihn bezahlt. Er veröffentlicht
das Ergebnis seiner Forschungen, so daß gleich das ganze Volk, die ganze Menschheit,
es kennen lernt. Diese aber fühlt keine Veranlassung, für die Bereicherung ihrer
Erkenntnis etwas zu zahlen; es schiebt jeder die Bezahlungsverpflichtung auf den
anderen, weil keiner den Auftrag gegeben hat. Nur einsichtige Regierungen, welche
die Wichtigkeit wissenschaftlicher Forschung erkennen, bezahlen als Vertreter des
Volkes den Wissenschaftler.
2. Nicht nur das Kind fragt bei jeder Gelegenheit, die ihm etwas Neues bringt, nach
dem Warum, sondern jeder denkende Mensch tut dieses, wenn auch mit anderen Worten,
gerade so; in dieser Beziehung bleibt er dauernd Kind. Du Bois-Reymond sagt in
seiner Antwort auf die Antrittsrede von Werner Siemens in der Berliner Akademie, das
Wort Warum ist unter allen Wörtern der menschlichen Sprache das menschlichste. Diese
dauernde Frage zu beantworten, ist Aufgabe der reinen Wissenschaft, sie fördert die
allgemeine Erkenntnis, das Verstehen der Natur und des Geschehens um uns herum. Das
ist ihre Aufgabe und ihr Nutzen. In wirtschaftlichen Werten läßt sich dieser Nutzen
natürlich nicht angeben. Er ist aber doch vorhanden und drückt sich in der
allgemeinen Anerkennung aus, welche jedem Fortschritt der reinen Wissenschaft auch von
solchen gezollt wird, welche nicht unmittelbar mit ihr zu tun haben.
Die Wissenschaft fördert die Erkenntnis lediglich um ihrer selbst willen, ohne an
eine Nutzbarmachung zu denken.
Als Lord Kelvin seinen Freund Joule veranlaßte, den bekannten Ueberströmungsversuch
Gay-Lussac, welcher für die Kenntnis der Eigenschaften der Gase von grundlegender
Bedeutung ist, zu verfeinern, hatten beide nur das Bestreben, die Erkenntnis der
Natur zu fördern. Daß 33 Jahre nach der Veröffentlichung jener rein
wissenschaftlichen Forschung durch die werktätige Geschicklichkeit Lindes aus ihr
das äußerst wichtige und große, in wirtschaftlichen Werten leicht anzugebenden
Nutzen bringende Gebiet der Luftverflüssigung entwickelt werden konnte, haben jene
Forscher nicht geahnt. Der Gedanke an eine wirtschaftliche Verwertung ihrer rein
wissenschaftlichen Forschergedanken war ihnen vollständig fremd. Dennoch wird jeder,
der jetzt den auf Grund ihrer Gedanken hergestellten künstlichen Dünger verwertet,
eingestehen müssen, daß diese Gedanken recht wirtschaftlich waren.
Es ist falsch, eine Arbeit, die nicht unmittelbar einen wirtschaftlichen Nutzen
bringt, gleich als nutzlos zu bezeichnen; man kann nie sagen, was für Folgerungen
noch daraus gezogen werden können.
Uebrigens arbeitet gelegentlich auch die Werktätigkeit nach diesem Verfahren der
reinen Wissenschaft, und es sind nicht gerade die erfolglosesten ihrer Vertreter,
welche so handeln. „Nachdem das Ziel erreicht war, eine Kältemaschine zu
besitzen, welche bei einem mehrfach höheren Wirkungsgrade gegenüber den
seitherigen Eismaschinen einen zuverlässigen und ökonomischen Betrieb
gewährleistete, ging ich an die Ueberlegung, wie die Verwendung der Kälte in
zweckmäßigster Weise zu gestalten sein werde.“ So schreibt von Linde in
seiner Lebensbeschreibung von den Kolbenverdichtermaschinen und, nachdem er die
Erfindung seines Verfahrens der Luftverflüssigung dargestellt hat, schreibt er
weiter: „Wenn es. Aufgabe der Naturforscher ist, ohne Rücksicht auf die
Nutzanwendung zu arbeiten, so erfüllt der Ingenieur die seinige gerade durch
möglichst vielseitige Anwendung der Forschungsergebnisse. In diesem Sinne fragte
ich mich: Was ist mit der neuen Errungenschaft einer einfachen Vorrichtung zur
Verflüssigung beliebiger Gasmengen anzufangen.“ Die Anwendungsgebiete,
welche damals gefunden wurden, sind gegenüber den jetzigen so klein und
minderwertig, daß man wohl sagen darf, ein unmittelbarer augenblicklicher Nutzen der
Erfindung war nicht vorhanden. Jetzt hat sich aus dieser im ersten Augenblick
nutzlosen Erfindung eine so große Technik entwickelt, daß man das Verfahren gar
nicht mehr missen kann, daß man sich gar nicht vorstellen kann, daß es einmal
nutzlos gewesen ist. Linde hat also zunächst als reiner Wissenschaftler gearbeitet
und trotzdem wird jeder Ingenieur ihn mit Stolz als Ingenieur bezeichnen.
3. Im allgemeinen ist aber die Aufgabe der Werktätigkeit eine ihr von außen
gestellte, auf einen bestimmten Nutzen hin arbeitende. Das Verlangen des Menschen
nach Bequemlichkeit und Annehmlichkeit des Lebens verlangt von der Werktätigkeit
bald dieses bald jenes Werk, welches sofort angefertigt werden muß. Der Mensch,
welcher ein Verlangen geäußert hat, läßt sich, nachdem ihm dieses Verlangen einmal
zum Bewußtsein gekommen und dadurch zu einem Bedürfnis geworden ist, nicht hinhalten
noch vertrösten, bis die Werktätigkeit einmal die Stimmung gefunden habe, die
Aufgabe zu lösen, sondern verlangt sofortige Befriedigung.
Gerade durch diese „Lieferfrist“ wird die Aufgabe der Werktätigkeit
schwieriger als die der reinen Wissenschaft. Das hohe Lied dieser Schwierigkeit ist
Max Eyths Erzählung: Berufstragik, die in dem Brief des Brückenbauers an seine Frau
vom 6. November 1872 gipfelt: „Von manchem kritischen Punkt wissen wir noch so
blutwenig und sollen und müssen darauf los bauen“. Er hat dieses Müssen mit
dem Tode bezahlt; aber die Werktätigkeit hat sich nicht abschrecken lassen, die
Brücke ist wieder aufgestellt worden und nun steht sie da, allen Schwierigkeiten zum
Trotz. Der damalige Ingenieur hat seine Aufgabe gelöst so gut sie damals gelöst
werden konnte. Spätere mögen ähnliche Aufgaben besser lösen, – man denke an die
Müngstener Brücke –, aber darauf konnte und wollte der Erbauer der Eisenbahn,
welcher die Brücke in Auftrag geegeben hatte, nicht warten; die Brücke mußte sofort
gebaut werden und wenn es den Tod koste.
Diese durch die Lieferfrist bedingte Schwierigkeit überwinden zu können, ist der
Stolz der werktätigen Ingenieure, wie ihn der reine Wissenschaftler nicht empfinden
kann.
4. Wie nimmt nun der Mensch das Ergebnis der reinen Wissenschaft und das der
Werktätigkeit auf?
Die reine Wissenschaft gibt Früchte vom Baum der Erkenntnis, sie macht den Menschen
allwissender, „Gott ähnlicher“; sie schafft Befriedigung des Geistes. Die der
Werktätigkeit gestellten Aufgaben beziehen sich auf das rein leibliche Behagen, sie
arbeitet für den Körper, für das dem Tier Verwandte im Menschen. Sie schafft
Befriedigung des Leibes.
Ein Abwägen zwischen Werktätigkeit und Wissenschaft in bezug auf ihren Wert, ihren
Nutzen ist nicht möglich. Die eine hat die schwierigere aber für den meist als
weniger wertvoll eingeschätzten Leib bestimmte Aufgabe. Die andere hat zwar die
größere Freiheit und bequemere Schaffensmöglichkeit, verlangt also geringere
Anstrengung, arbeitet aber für den als wertvoller eingeschätzten Geist des
Menschen.
Werktätigkeit und Wissenschaft haben keinen zum gegenseitigen Vergleich ihres Wertes
brauchbaren gemeinschaftlichen Maßstab; sie sind inkommensurabel. Beide sind aber
gleich nötig für das volle, das geistige und leibliche Behagen des Menschen und
deshalb muß man sagen, sie sind einander gleichwertig. Es darf keine der anderen
vorgezogen werden, keine darf höher eingeschätzt werden als die andere, keine ist
minder nötig als die andere.
Die große Menge ist nicht imstande, miteinander nicht vergleichbare Werte
gegeneinander abschätzen zu können; und da der Geist, der den Menschen vom Tiere
unterscheidet, mehr geachtet wird als der Leib, den ja das Tier auch hat, so wird
auch der Geistesarbeiter, welcher sich für die Fortentwicklung des Geistes bemüht,
ein größeres Ansehen bei der großen Menge besitzen, als der, welcher für die
Bequemlichkeit des Leibes tätig ist.
Hat nicht jedes Winkelblättchen große Aufsätze über Einstein gebracht, ohne daß der
Schreiber auch nur einen Schimmer von Ahnung hatte, worin eigentlich die Leistungen
Einsteins bestehen? Wer kennt dagegen den Erbauer der Müngstener Brücke? Ich
befürchte, nicht einmal die Solinger und Remscheider werden ihn kennen, so oft sie
auch über die Brücke fahrenSchreber,
Hervorragende Leistungen der Technik 1913, S. 39..
Manche Ingenieure machen aus dieser geistigen Einstellung der großen Menge
gerade den Deutschen einen Vorwurf; das ist unberechtigt; sie findet sich in
derselben Weise bei allen Völkern. Wer unbefangen den Einsteinrummel mit angesehen
hat, und die Literatur fremder Völker kennt, findet ihn, mutatis mutandis, in
Molieres Gelehrten Frauen herrlich schön beschrieben.
5. Beide Arbeitsgebiete des menschlichen Geistes beruhen auf der gleichen Grundlage;
beide gehen von der Erfahrung aus und zwar von der Einzelerfahrung. Sämtliche
Erfahrung besteht aus einzelnen Erfahrungstatsachen, aus einzelnen Beobachtungen.
Die wissenschaftliche Tätigkeit besteht darin, diese einzelnen Erfahrungen zu
ordnen, Zusammengehöriges zusammenzufassen und, soweit dieses möglich ist, durch ein
einfaches Naturgesetz auszusprechen.
Die ersten Anfänge dieser wissenschaftlichen Tätigkeit macht auch der einfachste
Vertreter der Werktätigkeit, der Handwerksmeister mit. Er bildet ebenso wie jeder,
der unmittelbare Erfahrungen und Beobachtungen verwerten will, aus einer Reihe von
einzelnen Erfahrungen seinen allgemeinen Satz, der sich in der sogenannten
Faustformel ausdrückt. Mit dieser arbeitet er dann weiter, mag ihm diese geistige
Tätigkeit des Zusammenfassens von Erfahrungstatsachen zu einer Formel zum Bewußtsein
gekommen sein oder nicht.
Je umfassender aber das Gebiet wird, aus dem die Einzelerfahrungen stammen, um so
weniger genügt die einfache Faustformel, um so schärfer muß sie zu einer
mathematischen Gleichung durchgebildet sein.
Das Ziel jeder Forschung, das der reinen Wissenschaft sowohl, wie das, welches von
der Werktätigkeit verlangt wird, ist und bleibt die mathematische Gleichung. Erst
eine, alle Umstände richtig bewertende mathematische Gleichung gibt die Möglichkeit,
Einzelerfahrungen leicht und richtig auszusprechen, so daß Mißverständnisse
ausgeschlossen sind, um die Erfahrungen für neue Aufgaben anwenden zu können. Schon
Leonardo da Vinci sagtGerland, Geschichte
der Physik 1913, Seite 244., „allein wo Mathematik anwendbar
ist, herrscht Gewißheit, und nur soweit sie sich anwenden läßt, steht das Wissen
unbedingt fest“. Ohne Mathematik können sich technische Fächer nur
entwickeln, so lange sie in den Kinderschuhen stecken.
Galilei hatte die Grundgleichung für die Fallgesetze aufgestellt. Keppler hatte
dasselbe für die Planetenbewegung geleistet. Newton faßt beide Gleichungen in seinem
Gravitationsgesetz zu einem Naturgesetz zusammen, welches nun sämtliche Erfahrungen
über die Bewegung der Planeten und der anderen Sterne wie der Körper auf der Erde
umfaßt und sie leicht und richtig auszusprechen gestattet, so daß jedes
Mißverständnis ausgeschlossen ist. Aus ihr kann man sämtliche Bewegungen in ihrem
Verlauf beschreiben, ohne sie selbst beobachten zu müssen; ja sogar bevor die
Bewegung eintritt, ihren Verlauf vorhersagen.
Mit der Aufstellung dieser umfassenden Gleichung haben wir aber schon das der
Werktätigkeit noch mögliche Gebiet der wissenschaftlichen Tätigkeit verlassen und
sind in das Gebiet der reinen Wissenschaft gekommen. Während die Werktätigkeit sich
mit dem Sammeln der Einzelerfahrungen, und gedrängt durch die an sie herantretenden
Aufgaben des Lebens, mit der Aufstellung der einfachsten Faustformeln begnügen muß,
gelangt die Wissenschaft durch immer weiter und weiter um sich greifendes
Zusammenfassen zwar zu immer größerer und größerer Erkenntnis, entfernt sich
aber im selben Maße immer weiter und weiter von der Möglichkeit der unmittelbaren
Anwendbarkeit ihrer Errungenschaften durch die Vertreter der Werktätigkeit.
Hier tritt nun die angewandte Wissenschaft vermittelnd ein. Ihre Aufgabe ist, aus den
von der reinen Wissenschaft aufgestellten allgemeinen Sätzen die Folgerungen zu
ziehen, welche gewissermaßen die Faustformeln der Werktätigkeit auf eine breitere,
gesichertere Grundlage stellen. Gleichzeitig soll sie aber auch für die mit der
Entwicklung der Werktätigkeit immer schwieriger und schwieriger gewordenen Aufgaben
die rechnerische Grundlage vermittelst der allgemeinen Sätze der reinen Wissenschaft
liefern.
Wir bekommen also für die auf Sinneserfahrungen beruhenden Geistestätigkeiten
folgendes Schaubild:
Textabbildung Bd. 339, S. 121
Einzelbeobachtung und -erfahrung.;
Gelegentliches Häufen von Einzelbeobachtungen und -Erfahrungen; Aufstellen der
die unmittelbaren Beobachtungen zusammenfassenden Faustformeln; Planmäßiges
Sammeln von Einzelerfahrungen; Aufstellen des mathemathischen Ausdruckes für das
einfache Naturgesetz; Anwendung von unmittelbaren Beobachtungen, Faustformeln
und Schlußfolgerungen der angewandten Wissenschaft zur Lösung wirtschaftlicher
Aufgaben; Werktätigkeit; Ziehen von Schlußfolgerungen aus den allgemeinen
Gesetzen zur Erleichterung der Lösung wirtschaftlicher Aufgaben; Angewandte
Wissenschaft; Vereinigung mehrerer mathematischer Gleichungen zu einem
umfassenden Naturgesetz zur Förderung der allgemeinen Naturkenntnis.; Reine
Wissenschaft.
Je weiter im Laufe der Entwicklung die Glieder der Endreihe dieses Schaubildes
auseinanderrücken, um so mehr trennen sich auch die Glieder der früheren Reihen so
daß zur Zeit schon in der zweiten die Trennung immer merkbarer wird. Andererseits
ist die Grenze zwischen den Gliedern der letzten Reihe durchaus nicht fest: Was der
eine noch zur Werktätigkeit zählt, wird der andere vielleicht- schon weit in die
angewandte Wissenschaft hinein versetzen. Ebenso ist es bei der anderen
Trennung.
Ist durch das Zusammenfassen von Einzelbeobachtungen zu einer mathematischen
Gleichung ein Satz gefunden, so ist dieser erst dann als richtiges Naturgesetz
anzuerkennen, wenn er in allen seinen Folgerungen mit der Erfahrung übereinstimmt.
Es müssen aus dem Satz sämtliche, mathematisch möglichen Folgerungen gezogen und an
der Erfahrung geprüft werden. Das ist die Aufgabe des Forschens, des Studierens.
Beim Studieren wird also ein bestimmter aus der Erfahrung erschlossener Satz obenan
gestellt, dessen Folgerungen geprüft werden. Stimmen die gezogenen Folgerungen mit
der Erfahrung überein, so ist der Satz in diesen Fällen bestätigt. Stimmt auch nur
eine nicht, so ist der Satz falsch, oder muß wenigstens in seiner Allgemeinheit
beschränkt werden. Je weitere Folgerungen aber gezogen werden, die mit der Erfahrung
übereinstimmen, um so richtiger ist der Satz, um so berechtigter war seine
Erschließung aus der Erfahrung und mit um so größerer Ruhe darf man ihn auch dort
anwenden, wo man nicht gleich nachprüfen kann.
Beim Probieren dagegen wird auf gut Glück ein Versuch angestellt, der vielleicht
zufällig das erwartete Ergebnis zutage fördert. Er braucht aber trotzdem nicht beweiskräftig zu
sein, denn das Ergebnis ist vielleicht gar nicht von der für wesentlich gehaltenen
Bedingung abhängig, sondern von einer anderen nicht erkannten, welche zufällig
ebenfalls erfüllt war. Versuch in diesem Sinne ist durchaus nicht immer nur ein
einzelner Versuch; oft kann das Probieren eine lange kostspielige Versuchsreihe oder
gar viel Versuchsreihen bedingen.
EythWeihe, Max Eyth 1916, Seite 32.
schreibt über dieses Probieren: „Viele Tausende werden alljährlich in England für
Versuche vergeudet, wo eine einfache Berechnung, eine richtige Anwendung
physikalischer oder selbst geometrischer Lehrsätze die Frage sicher entschieden
hätte. Oft genug führt dieser Weg des Experimentierens zum praktischen Ziel, man
muß aber sehr reich sein ihn zu begehen“.
So manche Frage läßt sich wegen dieser ungeheuren Kosten gar nicht auf dem Wege des
Probierens beantworten. Fragen wir z.B., welches die zum Betrieb von Dampfmaschinen
geeignetste Flüssigkeit ist, so erkennen wir schon aus der ungeheuren Menge von
Flüssigkeiten welche es gibt, daß durch Probieren hier gar nichts zu erreichen ist.
Auf wissenschaftlichem Wege, durch das vielfach so verpönte Studieren ist diese
Frage leicht zu beantworten und man findet dann gleichzeitig auch noch die Grenzen
der Wirtschaftlichkeit der Dampfmaschine überhauptSchreber, Theorie der Mehrstoffdampfmaschinen
1903..
Beim Forschen kann ein falsches Ergebnis nicht vorkommen; der vorangestellte Satz
wird entweder bestätigt oder als unrichtig erwiesen. Beim Probieren kann leicht ein
falsches, ein täuschendes Ergebnis herauskommen.
Das Forschen erfordert viel Vorbereitung; es muß erst durch eine, vielen vielleicht
zu umständliche mathematische Rechnung die zu prüfende Schlußfolgerung aus dem
allgemeinen Satz gezogen werden, dann müssen die Bedingungen des Versuches dieser
Schlußfolgerung entsprechend aufgestellt werden und erst dann kann das Beobachten
beginnen.
Hierzu hat der Vertreter der reinen Wissenschaft, der durch nichts gedrängt wird, die
nötige Zeit und Ruhe. Seine Tätigkeit ist deshalb wesentlich Forschertätigkeit. Dem
werktätigen Ingenieur bleibt diese Ruhe meist nicht. Er muß die ihm gestellte
Aufgabe in vorgeschriebener Zeit lösen. Er ist deshalb, wenn die wissenschaftliche
Lösung seiner Aufgabe nicht schon bekannt ist, auf das Probieren angewiesen, welches
ihm durch einen Versuch oder eine kurze Versuchsreihe eine Entscheidung für einen
vorliegenden Fall zu treffen gestattet. Daher in den Kreisen der werktätigen
Ingenieure die Ueberschätzung des Satzes: Probieren geht über Studieren. Von den
meisten, die sich auf ihn berufen, wird dabei vergessen, daß das Probieren keine
Sicherheit für die Richtigkeit des Ergebnisses bietet und keine Uebertragung auf
andere Fälle zuläßt.
Der reine Wissenschaftler kann bei seinem Forschen den einzig und allein zum
vollkommenen Ziel führenden Weg des Baco „dissecare naturam“ anwenden, die
einzelnen Grundveränderlichen aufsuchen, mögen es noch so viele sein, durch
teilweise Differentiation der zu prüfenden Gleichung nach diesen Veränderlichen
deren Einfluß zunächst rechnerisch feststellen und nun für jede einzelne nachprüfen,
ob die Gleichung den Erfahrungen standhält oder nicht, ob sie so bleiben darf oder
ob, und in diesem Falle, wo sie abgeändert werden muß, oder ob sie ganz zu verwerfen
ist.
Der werktätige Ingenieur muß gleich „auf das Ganze“ gehen, weil er schnell
fertig sein muß; dadurch entgeht ihm die Möglichkeit, das Ergebnis seines
Probierens auf andere Fälle anwenden zu dürfen. Der Wissenschaftler verbraucht
viel Zeit, erhält aber dafür ein leicht zu verallgemeinerndes Ergebnis, wodurch sich
der Zeitverbrauch wieder bezahlt macht.
6. Der eben angeführte Satz von Max Eyth gilt, soweit es sich um dessen Urteil über
den Wert des Probierens handelt, für alle Zeiten und für alle Länder, auch für unser
jetziges Deutschland; aber soweit es sich um die Anwendung auf England handelt, nur
für die Zeit, wo Eyth in England lebte. England und namentlich Amerika haben längst
erkannt, daß der Vorsprung, den Deutschlands Feinindustrie hatte, nur durch die
wissenschaftliche Durchdringung der Technik ermöglicht ist. Beide machen die größten
Anstrengungen, wissenschaftliche Forschungsinstitute für die Werktätigkeit nutzbar
zu machen und so Deutschland zu überflügeln.
Nur so lange die Führer unserer Industrie wissenschaftlich geschult bleiben, nur so
lange ihnen während ihrer Studienzeit Achtung auch vor der Wissenschaft beigebracht, die nicht einen sofort in Geld angebbaren
Nutzen bringt, nur so lange dem Nachwuchs die Ausbildung des Geistes das wichtigste
ist ohne Rücksicht auf schnelles Examen, nur so lange darf Deutschland damit
rechnen, daß seine Industrie trotz der Schäden, die ihr Krieg und Revolution
gebracht haben, die führende Stellung beibehalten wird, die sie sich, seit Preußen
den Zollverein gegründet hatte, errungen hat.
Das einzige, was Deutschland ausführen kann, sind die Erzeugnisse der Feinindustrie,
sind Fertigwaren. Als Jahrhunderte altes Kulturland hat Deutschland keine Rohstoffe
mehr; die einzigen, die es noch hatte, Kohle und Eisen, sind in Versailles
abgetreten worden. Wir müssen alle Rohstoffe aus dem Ausland holen, hier im Lande zu
Fertigwaren verarbeiten und dann diese Erzeugnisse der Feinindustrie ausführen. Ohne
sorgfältige allgemein wissenschaftliche Ausbildung und die Fähigkeit, diese
Ausbildung anwenden zu können, ist die Fortbildung der Feinindustrie nicht
möglich.
Die Fähigkeit, das Gelernte anwenden zu können, läßt sich nicht gut lehren und
lernen, sie ist im wesentlichen angeboren, eine Gabe der Natur, die der Einzelne bei
der Geburt mitbringt. Aber sie läßt sich doch mehr oder weniger ausbilden. Die
Universitäten benutzen dazu schon seit jeher das Hilfsmittel der Promotionsarbeit.
Leider haben die Hochschulen namentlich die Fakultäten für Maschinenwirtschaft von
dem ihnen schon seit der Jahrhundertwende verliehenen Promotionsrecht, nicht diesen
unterrichtswissenschaftlichen Gebrauch gemacht. Die Mehrzahl der in dieser Fakultät
vorgenommenen Promotionen betrifft Herren, welche schon lange in der Werktätigkeit
gestanden haben. Nur ganz selten sind Herren, welche ihre Promotionsarbeit als
Abschluß ihres Studiums anfertigen.
Hier liegt noch eine wichtige Lücke im Hochschulunterricht vor. Der Hochschullehrer
soll nicht nur Wissen vermitteln, sondern er soll auch die Anlagen der Schüler zum
selbständigen Verarbeiten des Gelernten, die Fähigkeit das Gelernte anwenden zu
können, ausbilden. Daß das so wenig geschieht, liegt vielleicht daran, daß die aus
der Werktätigkeit geholten Professoren nicht geübt sind, Aufgaben zu sehen, zu deren
Bearbeitung sie dann ihre Schüler anregen können. Während ihrer Beschäftigung in der
Werktätigkeit sind ihnen die Aufgaben, die sie ausführen sollten, von den Vertretern
der Wirtschaft gestellt worden, so daß ihnen die Uebung fehlt, selbst Aufgaben zu
sehen, deren Ausführung einen Anfänger begeistern kann.
Der gute Oberingenieur ist noch lange kein guter Hochschullehrer.
(Schluß folgt.)