Titel: | Wissenschaft und Werktätigkeit. |
Autor: | K. Schreber |
Fundstelle: | Band 339, Jahrgang 1924, S. 129 |
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Wissenschaft und Werktätigkeit.
Theorie und Praxis.
Von Dr. K. Schreber.
(Schluß.)
SCHREBER, Wissenschaft und Werktätigkeit.
Arbeitsverfahren der angewandten Wissenschaft.
1. Die angewandte Wissenschaft steht zwischen Werktätigkeit und reiner Wissenschaft.
Mit der letzteren hat sie das Arbeitsverfahren, das Arbeiten mit mathematischen
Gleichungen gemein, mit der ersteren das Ziel, die Aufgabe. Auch sie muß ihr von
außerhalb, nämlich von der Werktätigkeit gestellte Aufgaben zu der Zeit lösen, wo
sie gestellt werden.
Sie muß dabei in den allermeisten Fällen auf die Vollständigkeit verzichten, wie sie
die reine Wissenschaft bietet, sie kann nur selten die ihr gestellte Aufgabe
vollständig lösen. Wie das gemeint ist, läßt sich am besten an einem Beispiel
zeigen.
Bei der Behandlung der Vorgänge in den Wärmekraftmaschinen, wie ich sie mir in meiner
Vorlesung über technische Wärmelehre als Aufgabe gestellt habe, zeigt sich die Zahl
der Bedingungen, von denen die Umwandlung der aus der Natur genommenen chemischen
Energie in die gewünschte mechanische Arbeit abhängt, oder mathematisch gesprochen,
die Zahl der Veränderlichen in der Grundgleichung so groß, daß, wenn wir sie alle
beibehalten wollten, wir einen mathematischen Ausdruck erhalten würden, den kein
Mensch, und wäre er der geschickteste Mathematiker, übersehen kann. Wir können die
uns gestellte Aufgabe nur angenähret lösen, indem wir uns von Anfang an darauf
beschränken, nur die wichtigsten dieser Veränderlichen beizubehalten und die anderen
in einer besonderen Rechnung nachher zu berücksichtigen.
Auf diese Weise behandeln wir mit vollem Bewußtsein in der Rechnung Vorgänge, welche
es in der Wirklichkeit gar nicht gibt; Vorgänge, welche mit denen der Wirklichkeit
nur eine mehr oder weniger große Aehnlichkeit haben.
Jeder, der mit Gasmaschinen schon einmal zu tun gehabt hat, weiß, daß das Verbrennen
des Gasluftgemisches in der Gasmaschine, wenn auch sehr schnell, so doch immer noch
mit einer endlichen Geschwindigkeit verläuft. Ja, wir wissen sogar, daß bei den
neuzeitlichen Schnelläufern die Größenordnung der Kolbengeschwindigkeit der der
Flammengeschwindigkeit ziemlich nahe kommt. Trotzdem nehmen wir beim ersten
einfachen rechnerischen Verfahren zur wissenschaftlichen Behandlung der Gasmaschinen
an, das Verbrennen verliefe im Vergleich mit der Kolbengeschwindigkeit unendlich
schnell.
Eine andere stets gemachte Annahme ist die, daß die in den Gasmaschinen auftretenden
Gase der einfachen Zustandsgleichung genügen, trotzdem wir wissen, daß kein einziges
diese Gleichung erfüllt.
Aehnlich machen wir es in anderen Fällen. Ueberall treffen wir eine Auswahl in der
Zahl der Bedingungen, von denen der Vorgang abhängig ist und die also in der
vollständigen Gleichung enthalten sein müßten. Mit diesen so ausgewählten
Veränderlichen berechnen wir jetzt die Umwandlung der chemischen Energie in Arbeit
nach einem Verfahren, welches mit dem der Wirklichkeit eine große Aehnlichkeit hat,
welches aber doch von ihm in ganz bestimmter, eben durch die Auswahl der
Veränderlichen bedingten Weise abweicht.
Ich nenne dieses der Rechnung zugrundegelegte Verfahren der Umwandlung der chemischen
Energie in Arbeit, diesen Umlauf der die Umwandlung vermittelnden Stoffe den
rechnerisch einfach zu verfolgenden, zum Vergleich dienenden Umlauf oder kurz den
Vergleichsumlauf, das Vergleichsverfahren. Vielfach findet man ihn als den
theoretischen Umlauf, als das theoretische Verfahren und den mit seiner Hilfe
berechneten Wirkungsgrad als den theoretischen Wirkungsgrad bezeichnet. Dieser Name
ist irreführend. Mit dem Wort Theorie verknüpft man vielfach die Vorstellung von
etwas vollkommen richtigem, wogegen es keinen Einspruch, wobei es keine Abweichung
gibt. Im Gegensatz hierzu sind wir mit vollem Bewußtsein von der Wirklichkeit
abgewichen, weil unsere Hilfsmittel nicht ausreichen, die Wirklichkeit in allen
ihren Einzelheiten zu verfolgen. Der Vorgang, mit dem wir rechnen, ist nicht der
richtige, der vollständige; er ist, dessen sind wir uns voll bewußt, ein anderer,
ein einfacherer. Wir sind zu ihm gezwungen, weil wir wegen der mathematischen
Schwierigkeit, sämtliche Veränderlichen gleichmäßig zu beachten, eine große Reihe
von Veränderlichen nicht haben in die Rechnung einführen können.
Haben wir den Wirkungsgrad dieses Vergleichsverfahrens berechnet, so finden wir,
das ist die notwendige Folge unseres Vorgehens, daß er von dem an der wirklichen
Maschine gemessenen abweicht. Aber wir wissen, daß er abweichen muß, und wundern uns
über dieses Ergebnis nicht. Wir suchen vielmehr festzustellen, wo die Abweichungen
bemerkbar sind, und forschen entsprechend der Vorschrift: „dissecare naturam“
nach den Veränderlichen, welche diese Abweichungen veranlaßt haben.
Dann rechnen wir nach, wie groß der Einfluß der einzelnen, nicht beachteten ist und
können hiermit unseren rechnerischen Wirkungsgrad verbessern. So könnten wir, um im
Beispiel zu bleiben, die endliche Verbrennungsgeschwindigkeit des Gasluftgemisches
berücksichtigen. Besser und bequemer ist es aber, sie zunächst als unendlich schnell
beizubehalten und nachher den durch die Annahme ihrer Unendlichkeit bedingten
Einfluß besonders zu berechnen und als Verbesserung am Wirkungsgrad des
Vergleichsverfahrens anzubringen.
Auf diese Weise kann man immer mehr und mehr Veränderliche berücksichtigen und ihren
Einfluß berechnen. Die Rücksicht auf die Uebersichtlichkeit läßt uns aber dieses
Annäherungsverfahren bald abbrechen. Im allgemeinen benutzt man es z. Z. überhaupt
noch nicht, sondern begnügt sich mit dem rechnerisch einfachen Verfahren und faßt
die Summe der durch die nicht berücksichtigten Veränderlichen bedingten Abweichungen
als eine durch den Versuch zu bestimmende Verbesserung zusammen.
Diesen Versuch stellt man an, indem man mit dem Indikator die Arbeit mißt, welche vom
arbeitenden Stoff auf den Kolben übertragen wird. Hier kann man Punkt für Punkt die
Abweichungen des Vergleichsverfahren vom wirklichen feststellen und besprechen. Man
erkennt dabei, welche der vernachlässigten Veränderlichen einen merklichen Einfluß
hat und welche einen weniger großen. Man kann ferner beurteilen, ob es sich
empfiehlt, einen der Einflüsse abzuändern, um die durch ihn bedingte Abweichung zu
verbessern. Unter Verbessern ist hier durchaus nicht immer zu verstehen, daß man die
Abweichungen verkleinert. Ich erinnere an die Spitze des rechnerisch einfachen
Diagrammes der Gasmaschine. Für die Umwandlung der Wäme in Arbeit ist die Spitze
vorteilhaft, weil sie die heißeste Temperatur hat, also der ihr entsprechende
Carnotsche Differentialumlauf einen sehr großen Wirkungsgrad gibt. Für das Getriebe
ist aber die Spitze ungünstig, deshalb verbessert man den Gesamtwirkungsgrad, indem
man durch Verstellen des Zündpunktes oder ähnliche Maßnahmen die Spitze
abstumpft.
Hat man sämtliche Unterschiede zwischen der Indikatorlinie des rechnerischen und des
wirklichen Umlaufes besprochen, so greift man sie alle zusammen, indem man das
Verhältnis beider Arbeitsflächen bildet. Dieses Verhältnis nennt man den indizierten
Wirkungsgrad.
Auf anderen Gebieten der Werktätigkeit faßt man den Einfluß der nicht
berücksichtigten Veränderlichen durch den Sicherheitsfaktor oder ähnliche Zahlen
zusammen.
2. Bei diesem Vorgehen der angewandten Wissenschaft, mit vollem Bewußtsein nur einige
der Bedingungen, von denen ein Vorgang abhängt, zu berücksichtigen, tritt die
Willkür ein, zu entscheiden, welches die wichtigsten Bedingungen sind, die man
berücksichtigen muß, und welche man zuerst unbeachtet lassen darf. Diese Willkür ist
ganz dem Ermessen des Einzelnen überlassen. Deshalb fällt bei dem einen die
Entscheidung so, bei dem andern anders aus.
Ein Beispiel hierfür ist die Aufstellung des rechnerischen Wirkungsgrades der
Dampfmaschine. In der Kolbendampfmaschine kann man aus Rücksicht auf das
Zylindervolumen den Dampf sich nur unvollkommen ausdenen lassen. Soll man jetzt für
die Kolbendampfmaschine als Vergleichsumlauf den mit vollständiger oder den mit
unvollständiger Dehnung wählen? Wählt man den ersteren, so ist der rechnerische
Wirkungsgrad der Kolbendampfmaschine und der Turbinendampfmaschine der gleiche, aber
die Kolbendampfmaschine hat einen verhältnismäßig schlechten indizierten
Wirkungsgrad. Wählt man dagegen für die Kolbendampfmaschine den Umlauf mit
vollständiger Dehnung, wodurch die Rechnung nur ganz unwesentlich umständlicher
wird, so haben beide Arten von Dampfmaschinen verschiedene rechnerische
Wirkungsgrade, aber der Vergleich des indizierten Wirkungsgrades der
Kolbendampfmaschine mit dem der Kolbengasmaschine wird einfacher.
Hier liegt eine Schwierigkeit für den Vertreter der angewandten Wissenschaft vor. Er
muß sich sorgfältig überlegen, welche Veränderlichen er beim Vergleichsverfahren
berücksichtigen und welche er für die zweite Annährung zurücklassen will. Durch
vieljährige Behandlung derartiger Aufgaben hat sich eine gewisse Uebung in der
Auswahl herausgestellt, so daß man wohl behaupten darf, die gewöhnliche Darstellung
ist diejenige, welche sich der Wirklichkeit soweit nähert, wie es die Wissenschaft
mit den einfachen Mitteln z. Z. ausführen kann. Man muß ihm aber die Freiheit
lassen, je nach der gestellten Aufgabe, einmal diese, das andere Mal jene
Veränderliche von der ersteren Behandlung auszuschließen.
Gelegentlich erhält man durch geeignete Wahl der Veränderlichen noch eine Erkenntnis,
welche man bei anderer Wahl nicht hätte erhalten können. Z.B. läßt der Umlauf mit
unvollständiger Dehnung noch erkennen, daß es für Kolbendampfmaschinen einen
günstigsten Luftdruck im Verflüssiger gibt und man deshalb niemals Kolben- und
Turbinendampfmaschinen an denselben Verflüssiger anschließen darf.Schreber, Theorie der Mehrstoffdampfmaschine
1903, S. 46.
Vollständig kann die Wirklichkeit niemals von der Wissenschaft erreicht werden.
Dessen muß sich jeder bewußt bleiben, und zwar nicht nur der Vertreter der
angewandten Wissenschaft, sondern namentlich der Vertreter der Werktätigkeit, der
gar zu gern der Wissenschaft den Vorwurf macht, daß sie nicht alle Umstände
berücksichtige.
3. Nun arbeitet aber die reine Wissenschaft nur nach der Stimmung ihrer Vertreter.
Wie diese durch ihre geistigen Anlagen veranlaßt werden, so fördern sie die
Erkenntnis, unabhängig von irgendwelchen Wünschen der angewandten Wissenschaft und
noch viel unabhängiger von denen der Werktätigkeit.
Auf diese Weise kommt es, daß die angewandte Wissenschaft sehr häufig nicht geben
kann, was von ihr verlangt wird. Dann muß die Aufgabe entweder unvollständig gelöst
werden oder sie bleibt ungelöst liegen und kann erst in viel späterer Zeit wieder
aufgenommen werden, wenn die reine Wissenschaft das nötige Rüstzeug geliefert
hat.
Ein sehr schönes Beispiel, wie dieselbe Aufgabe einmal unvollständig und schlecht und
dann später, nachdem die reine Wissenschaft weit genug vorgeschritten war, einfach
und vollkommen gelöst wurde, gibt Oechelhäuser in seinem schönen Buch: Aus deutscher Kultur
und Technik, wo er auf Seite 48 die Versetzung der beiden Obelisken beschreibt:
Aus dieser Abhängigkeit der angewandten Wissenschaft von der reinen entsteht leicht
der Vorwurf, daß die der Werktätigkeit nachhinke; und er wird ihr tatsächlich
gemacht. Es ist aber besser, sie läßt sich diesen Vorwurf machen, als daß sie ohne
ausreichende Begründung allgemeine Sätze aufstellt und aus diesen Folgerungen zieht,
welche eine vorliegende Aufgabe scheinbar lösen. Ein solches Vorgehen könnte leicht
dazu verführen, ein Naturbild aufzustellen, ähnlich wie es die Naturphilosophen am
Anfang des vorigen Jahrhunderts getan haben.
Es ist lehrreich zu lesen,Königsberger, H. v.
Helmholtz I 1902, Seite 57 und 85. welche Schwierigkeiten
Helmholtz, der größte Vertreter der reinen Wissenschaft in der Jetztzeit mit seinem
der spekulativen Philosophie völlig ergebenen Vater hatte, „der für
wissenschaftlich nur die deduktive, für jeder Wissenschaft feindlich die
induktive Methode ansah, während Helmholtz gerade diese auf seinen Schild
erhoben und zum Segen der Naturwissenschaften, der Wissenschaft überhaupt, bis
an sein Ende hochgehalten hat“.
Wir können froh sein, daß wir eine derartige haltlose Spielerei mit sogenannten
allgemein logischen Sätzen überwunden haben. Die Vertreter der angewandten
Wissenschaften lassen sich lieber den Vorwurf machen, daß sie nicht alle Aufgaben
lösen können, als daß sie sich selbst den Vorwurf machen müßten, sie trügen
„hypothetische Wärmelehre“ vor.Güldner, Entwerfen und Berechnen von Gasmotoren 1905. S.
VIII.
Da Herr Güldner ein anerkannter Erbauer von guten Gasmaschinen ist, so darf ich hier
seine etwas eigenartige Stellung zur Wissenschaft, die von so vielen anderen
Erbauern von Maschinen geteilt wird, daß er einfach als Beispiel für diese alle
angesehen werden kann, etwas genauer besprechen: Jede Wärmekraftmaschine kann von
zwei Seiten wissenschaftlich behandelt werden, entweder unter Voranstellung der
Energieumwandlung von der chemischen Energie an bis zur erstrebten Arbeit, oder
unter Voranstellung der Bauteile, mit deren Hilfe die Energieumwandlung ermöglicht
wird. Die erste Behandlung wird von den Vertretern der Wärmewissenschaft, die andere
von denen der Bauwissenschaft ausgeführt. Daraus, daß die letzteren sehr viel später
zu einer Zusammenfassung ihrer Wissenschaft, soweit sie für die Maschinen mit
innerer Verbrennung wichtig ist, gelangt sind, daß sie warteten, bis Güldner diese
Aufgabe erkannte, darf den ersteren kein Vorwurf gemacht werden, die in ihren früher
erschienenen Büchern eben nur ihre Wissenschaft behandelten.
Nebenblei bemerke ich, daß wir hier ein Beispiel für den oben von mir aufgestellten
Satz haben, daß die Vertreter der Werktätigkeit keine Uebung im Erblicken
wissenschaftlicher Aufgaben haben.
Die „Jagd nach dem Liter“ muß in beiden Gruppen von Büchern den führenden
Gedanken bilden; in den wärmewissenschaftlichen die Jagd nach dem Liter Gasvolumen,
in den bauwissenschaftlichen, die nach dem Liter Zylindervolumen. Jenes bedingt die
Betriebsdieses die Baukosten.
Würde Herr G. sich diese Sachlage deutlich gemacht haben, so hätte er im Vorwort zu
seiner ersten Auflage den Vertretern der Wärmewissenschaft nicht die Vorwürfe
gemacht, welche er in den späteren Auflagen schamhaft verschwiegen hat, ohne auf
dieses Verschweigen aufmerksam zu machen.
Ich wiederhole, daß die hier besprochene Stellung des Herrn G. nur ein Beispiel
ist für die Stellung sehr vieler Nurmaschinenbauer.
Das Handwerkzeug der Wissenschaft und der
Werktätigkeit.
1. Ich hatte schon oben bemerkt, daß die angewandte Wissenschaft ihre Aufgabe von der
Werktätigkeit erhält, während sie die Grundlagen ihrer Untersuchungen der reinen
Wissenschaft entnimmt. Infolgedessen wird von ihr verlangt, daß sie das Handwerkzeug
beider zu benutzen versteht.
Jedes Fach hat sein bestimmtes Handwerkzeug, der Dreher ein anderes wie der Maurer,
der Tischler ein anderes wie der Schlosser. Wenn nun auch der eine vielleicht das
des anderen kennt, so fehlt ihm doch die Uebung es fachmännisch zu verwenden. So ist
es auch mit den Vertretern von Wissenschaft und Werktätigkeit. Jeder hat sein
Handwerkzeug, und wenn er auch das des anderen kennt, die Uebung mit ihm umzugehen,
hat er im allgemeinen nicht.
Das Handwerkzeug der Werktätigkeit ist die Zeichnung. Man sagt gewöhnlich, die
Zeichnung sei die Sprache des Ingenieurs. Das ist nicht der richtige Ausdruck. Die
Zeichnung ist kein gesprochenes Wort, sondern ein geschriebenes; deshalb muß man
sagen, die Zeichnung ist die Schrift des Ingenieurs. Wilhelm Ostwald sagt einmal:
Der Ingenieur „denkt in anschaulichen, meßbaren und räumlich geordneten Größen,
für die er nicht Worte verwendet, sondern Zeichen und Bilder, also wieder
Gesehenes, nicht Gesprochenes“. Zu jeder Schrift gehört aber auch eine
Schnellschrift, eine Stenographie, welche neben der Schrift noch besonders gelernt
werden muß.
Textabbildung Bd. 339, S. 131
Wer sich unbefangen die beistehende kleine Zeichnung betrachtet, wird nicht sagen
können, was sie vorstellen soll. Ich bitte die Leser, sich von der Richtigkeit
dieses Satzes zu überzeugen, indem sie das Bildchen solchen Freunden vorlegen,
welche sich noch nicht um technische Zeichnungen gekümmert haben. Der Ingenieur
dagegen, der das technische Zeichnen gelernt und geübt hat, weiß, daß so das
Vorhandensein eines Ventiles in einer Rohrleitung angedeutet wird. Diese und
ähnliche Vereinfachungen sind die Vorschriften der Stenographie der werktätigen
Ingenieure, die ebenso willkürlich sind, wie die jeder anderen Stenographie.
Im Vorwort eines recht viel benutzten kleinen Werkchens über das praktische
Maschinenzeichen findet sich der Satz: „Betrachtet der Anfänger eine
Hauptzeichnung einer Lokomotive, so wird er aus den vielen Maßen, Ziffern,
Linien, blauen und roten Linien, starken, schwachen und punktierten Strichen,
verschiedenen Farben, Pfeilen usw. nicht klug werden. Sobald er jedoch die
Bedeutung der Zeichen kennengelernt hat, wird er erstaunt sein, wieviel Gedanken
sich mit verhältnismäßig wenig Strichen auf dem beschränkten Platz festhalten
lassen“.
Genau dasselbe kann man von der Stenographie der reinen Wissenschaft sagen. Daß
dieses Bild
Textabbildung Bd. 339, S. 131
des Guldberg-Waageschen Gesetzes der Mengenwirkung ein Produkt
bedeutet, in welchem eine Reihe von Faktoren, die aus Potenzen mit positiven, und
eine zweite Reihe von Faktoren, die aus Potenzen mit negativen Exponenten gebildet
sind, enthalten ist, das muß man in der Mathematik gelernt haben, ehe man an die
Erfassung des Guldberg-Waageschen Gesetzes selbst herangehen kann. Wer diese
Stenographie nicht versteht, der kann von der Sache erst recht nichts verstehen.
Ich habe dieses Beispiel der Stenographie der reinen Wissenschaft gewählt, weil
diejenigen werktätigen Ingenieure, welche an der wirtschaftlichen Ausnutzung der
Brennstoffe mitarbeiten wollen, sich mehr oder weniger bald mit diesem Gesetz
vertraut machen müssen. Ohne die Kenntnis dieses Gesetzes lassen sich die
Verbrennungserscheinungen nicht verstehen, läßt sich nicht beurteilen, ob eine
Verbrennung wirtschaftlich geleitet ist oder nicht, läßt sich nicht entscheiden, ob
für einen gegebenen Brennstoff Verbrennung, Entgasung oder Vergasung das
Wirtschaftlichere ist.
Nun hat jedes Fach, das einfachste Handwerk sowohl wie die reine Wissenschaft, den
Drang zur Entwicklung in sich.
Mit dieser Entwicklung des Inhaltes ändert sich aber auch, wenn auch vielfach
unabhängig davon, das Handwerkzeug und die Stenographie. Wer sich eine Zeitlang um
ein dem seinen benachbartes Fach nicht gekümmert hat und findet dann Veranlassung,
sich wieder einmal mit ihm zu beschäftigen, der wird häufig die ihm gewiß recht
unangenehme Entdeckung machen müssen, daß sich nicht nur der Inhalt des Faches
vermehrt, sondern daß sich auch die Stenographie des Faches weiter entwickelt hat,
daß Zeichen und Abkürzungen auftreten, die er von früher her nicht kennt. Im
allgemeinen ist es nun schwer, aufzufinden, wo man die Erklärung der neuen
stenographischen Zeichen findet. Das nimmt vielfach den Mut, die Arbeit, für welche
man Lust und Bedürfnis hatte, durchzuarbeiten. Gar zu leicht folgt aus der Tatsache,
daß man die neue Stenographie nicht lesen kann, dann der Schluß, daß das ganze Fach
unverständlich geworden ist. Damit sind dann leider die Brücken zum Nebenfach
abgebrochen und die Sonderfachwirtschaft wieder vermehrt.
Wie schnell übrigens die Entwicklung vor sich geht, davon macht man sich im
allgemeinen kaum eine Vorstellung. Ich will hier kurz ein recht krasses Beispiel
anführen: Zu Luthers Zeiten, also vor 400 Jahren hatte der um die Förderung und den
Betrieb des mathematischen Unterrichtes hochverdiente Melanchton an der Universität
vertretungsweise die Vorlesung über Mathematik, insbesondere Arithmetik, d.h. über
Ziffernrechnen, zu halten. In seinem Einladungsschreiben bekämpft er die
verbreitete falsche Meinung von der Schwierigkeit dieses Stoffes; die ersten
Anfänge, das Numerieren, Addieren, Subtrahieren seien weder dunkel noch schwierig,
das Multiplizieren und Dividieren freilich verlangen etwas mehr Fleiß; aber die
Studenten möchten aushalten, auch das sei zu bewältigen. Freilich gäbe es
schwierigere Teile der Arithmetik, „aber ich spreche nur von diesen Anfängen, die
man euch vorzutragen pflegt und recht nützlich sind“.
Heute und schon seit manchen Jahrzehnten ist der damalige Universitätslehrstoff des
Zahlenrechnens die Lernaufgabe der kleinsten Kinder, welche gerade in die Schule
gekommen sind.
Als vor ungefähr 100 Jahren Dalton die Beziehungen zwischen Temperatur und Volumen
der Gase darstellen wollte, war ihm der Differentialquotient der Exponentialfunktion
noch vollständig fremd, so daß er keine leicht verständliche Darstellung finden
konnte. Gay-Lussacs arithmetische Abhängigkeit ließ sich leichter darstellen und so
kommt es, daß wir die für die Berechung der Verwandlung von Wärme in Arbeit recht
unbequeme Temperaturzählung haben, welche Gay-Lussac vorgeschlagen hat, während die
Daltonsche hierfür viel geeigneter ist.
Wie sich die Stenographie der Zeichnung entwickelt hat, kann hier nicht gezeigt
werden, weil dazu die Zeichnungen selbst wiedergegeben werden müßten. Wer im Besitz
von Werkstattzeichnungen ist, welche 30 bis 50 Jahre alt sind, der möge sie mit den
heutigen vergleichen und dabei auf Einzelheiten, z.B. auf die Darstellung von
Schrauben und Gewinden achten. Er wird erstaunt sein, wie sich die Stenographie der
werktätigen Ingenieure entwickelt hat. Er wird sich nicht wundern, wenn ein
Vertreter der reinen Wissenschaft, der damals Zeichnungen lesen konnte, es heute
nicht mehr kann.
Jede Wissenschaft, die reine sowohl wie die der Werktätigkeit entwickelt nun ihre
Stenographie unbekümmert um die der anderen. Daraus erwächst für den Vertreter der
angewandten Wissenschaft die Aufgabe, nicht nur den Inhalt beider in seiner
Entwicklung zu verfolgen, sondern auch die der Stenographie beider. Gelingt ihm
dieses, so wird er zum gegenseitigen Verständnis beider beitragen.
Wissenschaft und Werktätigkeit sind zwei aufeinander
angewiesene, sich gegenseitig befruchtende Tätigkeiten des menschlichen Geistes,
deren Zusammenarbeiten für Deutschland unter den schwierigen Verhältnissen, in
denen wir leben und die uns sehr wahrscheinlich noch schlimmer bevorstehen, von
äußerster Wichtigkeit ist. Mögen die vorstehenden Zeilen dazu beitragen, das
gegenseitige Verständnis zu heben und das Zusammenarbeiten zu fördern.