Titel: | Beiträge zur anschaulichen Darstellung der Kreiselgesetze. |
Autor: | Karl Scholler |
Fundstelle: | Band 340, Jahrgang 1925, S. 113 |
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Beiträge zur anschaulichen Darstellung der
Kreiselgesetze.
Von Dipl.-Ing. Karl
Scholler.
SCHOLLER, Beiträge zur anschaulichen Darstellung der
Kreiselgesetze.
Die vielfache Verwendung, die der Kreisel während der letzten Jahrzehnte fand,
hob das Interesse für die Kenntnis seiner Bewegungsgesetze, besonders als
Kreiselkompaß, Fliegerhorizont, Schiffskreisel, Einschienenbahn, Propeller,
Schiffsturbine und als rotierendes Geschoß. Trotzdem sind gründliche Kenntnisse der
Kreiselmechanik heute nur selten zu finden, weil die gebräuchlichsten
Ableitungsmethoden namhafte mathematische Kenntnisse voraussetzen.
Die Verwendung des Kreisels im praktischen Maschinenbau bringt es mit sich, daß nicht
nur theoretisch gebildete Kräfte mit ihm zu tun haben. Die nachstehende Abhandlung
setzt sich daher zur Aufgabe, die Darstellung der wichtigsten Kreiselgesetze in
anschaulicher neuer Form zu bringen.
Textabbildung Bd. 340, S. 113
Abb. 1.
Es ist bekannt, daß ein in gerader Richtung mit gleichförmiger Geschwindigkeit
bewegter Körper nur unter dem Einfluß einer nicht in seiner Bewegungsrichtung auf
ihn wirkenden Kraft von der geraden Bahn abweicht und dann solange auf einer
gekrümmten Bahn verbleibt, als eine äußere Querkraft auf ihn einwirkt. Sobald der
Körper sich wieder selbst überlassen wird, bewegt sich sein Schwerpunkt wieder auf
gerader Bahn, sofern er nicht zum Stillstand kommt. Abb.
1 zeigt einen derartigen Körper in Gestalt eines Massenelements dm, das
sich in einem Rohr mit der Geschwindigkeit v bewegt. Wenn das Rohr mit der
Winkelgeschwindigkeit ω gedreht wird, verläßt das Massenelement dm während dieser
Drehung seine geradeBahn und bewegt sich auf einer archimedischen Spirale, d.h.
einer Kurve, die ein Punkt beschreibt, der sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit v
auf einem Radiusvektor bewegt, während sich dieser mit der Winkelgeschwindigkeit to
dreht. Der Krümmungskreis einer archimedischen Spirale hat bei Beginn der Bewegung
den Radius
R=\frac{1}{2}\ \frac{v}{\omega} (Glch. 1.)
Am Massenelement dm wirkt also eine Centripetalkraft
d\,C=\frac{dm\,v^2}{R} (Glch. 2.)
Setzt man den Wert für R ein, dann wird
d C = 2 • v • ω dm (Glch. 3.)
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Abb. 2 und 3.
In Abb. 2 und 3 sind nun zwei bzw. vier derartige Massenelemente dm
dargestellt, die auf einer ebenen Platte liegen, die zwei Drehachsen I–I und II–II
enthält. Die Massenelemente dm1 und dm2 bewegen sich in der durch Pfeile bezeichneten
Richtung mit der Geschwindigkeit v. Erfolgt durch ein äußeres Kräftepaar eine
Drehung der Platte um die Achse I–I in dem durch Drehpfeile angedeuteten Drehsinn,
dann durchlaufen dm1 und dm2 Kreisbahnen mit dem Radius R, wie dm in Abb. 1, während sich die beiden anderen parallel zur
Achse I–I bewegten Massenelemente (Abb. 3) gradlinig
weiterbewegen. Die Centrifugalkraft C1 ist senkrecht
zur Bildebene der Figur nach oben gerichtet, die Centrifugalkraft C2 senkrecht nach unten.
Beide Kräfte, C1 und C2, bilden ein erstes Kräftepaar, das die Platte um die Achse II–II zu
drehen sucht. Sobald aber eine solche Drehung um die Achse II–II stattfindet,
beschreiben auch die beiden parallel zur Achse I–I bewegten Massenelemente dm der
Abb. 3, Kreisbahnen und üben Centrifugalkräfte
aus, die ein zweites Kräftepaar bilden. Die durch dieses zweite Kräftepaar bewirkte
Drehung ist aber der anfänglichen Drehung um Achse I–I direkt entgegengesetzt. Das
äußere Kräftepaar findet also einen Widerstand, dessen Größe von der
Drehgeschwindigkeit der Platte um Achse II–II abhängt. Diese Drehgeschwindigkeit
wächst solange, als das erste Kräftepaar C1 C2 wirkt, also so lange, bis die Drehung um Achse I–I
aufgehört hat. Das zweite Kräftepaar wird also solange zunehmen, bis es dem äußeren
Kräftepaar, das die anfängliche Drehung um Achse I–I bewirkte, das Gleichgewicht
hält. Sobald eine gewisse Winkelgeschwindigkeit um Achse II–II erreicht ist, wird
die Drehung um Achse I–I aufhören und das äußere Kräftepaar, das die Bewegung um
Achse I–I einleitete, wird scheinbar wirkungslos bleiben.
Textabbildung Bd. 340, S. 114
Abb. 4.
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Abb. 5.
Die Abb. 3 ist in der Abb.
4 ergänzt durch Eintragung einiger weiterer Massenelemente. Zerlegt man
die Geschwindigkeit v dieser zusätzlichen Massenelemente in Komponenten parallel zu
der Bewegungsrichtung der vier Massenelemente in Abb.
3, so gelten die vorstehenden Betrachtungen auch für diese zusätzlichen
Massenelemente. Durch Zwischenlegung beliebig vieler derartiger Massenelemente wird
ein vollständiger Kreisring gebildet, so daß Rohre entbehrt werden können. In Abb. 5 ist ein derartig geschlossener Massenring
dargestellt, der sich in nichts mehr voneinem Kreisel unterscheidet. Die
vorstehenden Betrachtungen gelten zunächst nur für einen Kreisel, der in seinem
Schwerpunkt gelagert ist, bzw. im Schnittpunkt der beiden Achsen I–I und II–II.
Das äußere Kräftepaar kann man sich dann einerseits durch die Auflagerreaktion,
andererseits durch eine äußere Kraft Q, parallel zur Schwerkraft (Abb. 5) gebildet denken. Während sich bei einem nicht
rotierenden Kreisel unter dem Einfluß der Kraft Q die Kreiselachse neigen würde,
weiß man aus Erfahrung, daß dies bei einem rasch rotierenden Kreisel nicht eintritt.
Die Ursache dieses eigenartigen Verhaltens wurde im vorstehenden erörtert und
gezeigt, warum das äußere Kräftepaar um die Achse I–I, das hier durch Gewicht und
Auflagerreaktion gebildet wird, scheinbar nicht zur Wirkung kommt und wie eine
Drehung um eine Achse II–II zustandekommt, derzufolge jenes äußere Kräftepaar keine
Drehung um Achse I–I hervorzubringen vermag.
Zunächst soll nun versucht werden, die Summe aller Centrifugalkräfte für den ganzen
Kreisring zu bilden. In Abb. 5 sei dm ein unendlich
kleiner Teil der Masse des Kreisrings; r sei sein Trägheitsradius; u die
Winkelgeschwindigkeit der Rotation; Q die äußere Kraft, die gleich dem Gewicht des
Kreisels sein soll; s der Abstand der äußeren Kraft Q vom Auflagerpunkt; K das
Kräftepaar Q s; ferner λ der Winkel zwischen der Kreiselachse und der Lotrechten; ω
die Winkelgeschwindigkeit des Kreisels um jene Achse II–II, die in de Ebene des
Kräftepaars Q • s liegt und senkrecht zur Figurenachse des Kreisels steht.
Schließlich sei β ein beliebiger Winkel im ersten Quadranten des Kreisrings.
Nach Gleichung 1 war: R=\frac{1\cdot v}{2\cdot \omega} demzufolge
wird,
weil dC = sin β . d Cm
d\,C=d\lm\,\frac{v^2}{R}\,sin\,\beta=2\cdot v\cdot \omega\
sin\cdot \beta\cdot dm (Gl. 4).
Weil dC im Abstand r • sin β von der horizontalen Achse I–I
angreift, folgt:
dK = dC • r • sin β = 2 . v . ω . r . sin2 β . dm nun ist:
dm=q\cdot \frac{\gamma}{g}\cdot r\cdot db
also:
dK=2\cdot v\cdot \omega\cdot r^2\cdot sin^2\,\beta\cdot q\,\frac{\gamma}{g}\cdot dB;
ferner ist:
v = r . u
Setzt man diesen Wert in die vorherige Gleichung ein und
integriert, so folgt
\int\limits_0^{2\,\pi}\,d\,K=\int\limits_0^{2\,\pi}\,2\,r^3\,\cdot\,u\,\cdot\,\omega\,\cdot\,q\,\frac{\gamma}{g}\,\sin^2\,\beta\,d\,\beta
und nach Heraussetzung der Konstanten:
\int\limits_0^{2\,\pi}\,d\,K=2\,\cdot\,r^3\,\cdot\,u\,\cdot\,\omega\,\cdot\,q\,\frac{\gamma}{g}\,\int\limits_0^{2\,\pi}\,\sin^2\,\beta\,\cdot\,d\,\beta
Die Lösung des Integrals auf der rechten Seite der Gleichung
ist bekannt, sie lautet:
\int\limits_0^{2\,\pi}\,\sin^2\,\beta\,\cdot\,d\,\beta=\pi
hieraus folgt:
K=2\,\cdot\,r^3\,\cdot\,u\,\cdot\,\omega\,\cdot\,q\,\frac{\gamma}{g}\,\pi (Glch. 5)
Setzt man
2\,\cdot\,r\,\cdot\,\pi\,\cdot\,q\,\cdot\,\frac{\gamma}{g}=\frac{Q}{g}=M,
wobei Q das Gewicht des Schwungringes und M seine Masse
bedeutet, so vereinfacht sich der Ausdruck für K und nimmt die Form K – M • r2 • u • ω an. Setzt man nun noch statt M r2 – ⊖ wobei ⊖ das Trägheitsmoment des
Kugelkreisels bezogen auf den festen Punkt darstellt, so erhält man die Formel:
K = ⊖ • u • w
Die Achse eines Kugelkreisels vom Trägheitsmoment ⊖, dessen
Winkelgeschwindigkeit = u ist, dreht sich also mit der Winkelgeschwindigkeit ω um
den festen Auflagerpunkt. In der Abb. 6 ist dieser
Bewegungsvorgang veranschaulicht. Die Kreiselachse beschreibt einen Kegelmantel.
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Abb. 6.
Liegt die Kreiselachse horizontal, so fällt dieser Kegel in eine Ebene, die durch den
festen Punkt geht. Die Winkelgeschwindigkeit ω, mit der sich dann die horizontale
Kreiselachse um die Vertikale dreht, die durch den festen Punkt geht, ist dann
\omega=\frac{K}{\ominus\cdot u}.
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Abb. 7.
Diese Betrachtung läßt sich nun ohne weiteres auf den Fall übertragen, bei welchem
die Kreiselachse nicht mehr horizontal liegt, sondern irgend eine Schräglage
einnimmt. Bezeichnet man den Winkel zwischender Lotrechten und der Kreiselachse
mit λ, so ist 2 λ der Spitzenwinkel des Kegels, den die Kreiselachse beschreibt und
der Winkel des abgewickelten Kegelmantels beträgt 360° . sin λ also stets weniger
als 360°. Die Winkelgeschwindigkeit ω', mit der ein Kreiskegel mit dem Spitzenwinkel
2 λ durchlaufen wird, muß dementsprechend größer sein und zwar
\omega'=\frac{\omega}{sin\,\lambda}
Beträgt beispielsweise sin λ = 0,5, dann wird ω' = 2 ω, d.h.
der Kegel mit dem Spitzenwinkel 2 λ = 60° wird doppelt so schnell als bei einem
Spitzenwinkel von 180°, bzw. bei horizontal liegender Kreiselachse umlaufen.
Ist der Spitzenwinkel 2 λ, dann wird das äußere Kräftepaar:
K = Q • s • sin λ = ⊖ • u • ω'
Die Winkelgeschwindigkeit ω' nennt man die pseudoreguläre Präcession oder auch die
langsame Präcession.
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Abb. 8.
Man kann nun ohne Schwierigkeit auch die Zeit T angeben, während welcher der
Kegelmantel durchlaufen wird.
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Abb. 9.
Wenn ω' = 2 π wird T = 1 sec.
Also T=\frac{2\,\pi}{\omega'}, und wenn K =
Q s
Q\,\cdot\,s=\ominus\,\cdot\,u\,\cdot\,\frac{2\,\pi}{T} oder T=\frac{\ominus\,u\,2\,\pi}{Q\,\cdot\,s}=\frac{1\,\cdot\,u}{g}\,2\,\pi
worin l
die reduzierte Pendellänge und g = 9,81 ist. Statt dieser
Gleichung kann man auch schreiben:
T=2\cdot \pi\cdot \frac{u\cdot l}{g}.
Die vorstehende Ableitung kann ohne Schwierigkeit auch für nicht im Schwerpunkt, aber
achsial gelagerte Kreisel Anwendung finden, wenn man sich den Kreisel aus einem
System zweier kongruenter gleichachsiger Kreisringe zusammengesetzt und im
Systemschwerpunkt gelagert denkt. Die Betrachtung der angreifenden Kräfte in Abb. 3 läßt erkennen, daß im Systemschwerpunkt, also
in der Mitte der Kreiselachse außer derAuflagerreaktion keine weiteren Kräfte
und Biegungsmomente in Erscheinung treten. Die Achse kann demnach als unendlich dünn
bzw. im Auflagerpunkt spitz auslaufend gedacht werden, ohne daß dadurch die
Systembewegung beeinflußt wird. Statt eines einheitlichen Systems können demnach
beide Kreisringe als getrennte Systeme aufgefaßt werden, die außerhalb des
Schwerpunkts gelagert werden und unabhängig voneinander ihre Präcessionsbewegungen
ausführen.
Die Abb. 7, 8 und 9 zeigen einige Anwendungsbeispiele des Kreisels.