Titel: | Die Ingenieurausbildung der amerikanischen Großindustrie. |
Autor: | H. Neumann |
Fundstelle: | Band 341, Jahrgang 1926, S. 145 |
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Die Ingenieurausbildung der amerikanischen
Großindustrie.
Die Ingenieurausbildung der amerikanischen
Großindustrie.
Im General Electr. Rev. XXVIII Nr. 7 S. 468 gibt Francis C. Pratt eine
ausführliche Schilderung der Richtlinien, nach denen die amerikanische Industrie,
speziell die Elektroindustrie, ihre Ingenieure für ihren Beruf heranbildet.
Als um das Jahr 1823 infolge Erschöpfung des Bodens durch unwissenschaftliche
Bearbeitungsmethoden die Bevölkerung gezwungen wurde, sich neues Land im Westen zu
suchen, erkannte man die Notwendigkeit nach Unterweisung in wirtschaftlichen
Methoden der Bodenbearbeitung sowie nach besseren Transportmethoden, eine
Notwendigkeit, die zur Gründung des „Rensselaer Polytechnic Institute“ zu
Troy führte. Diese Schule, der 1829 ein Kursus zur Ausbildung von Zivilingenieuren
angegliedert wurde, versorgte zusammen mit der „West-Point-Military-Academy“
25 Jahre lang das Land mit wissenschaftlich gebildeten Ingenieuren.
Als dann vor etwa 40 Jahren die Elektrotechnik ihren Siegeszug durch die Welt begann,
gab es nur wenige Männer, die auf diesem Gebiet so viele Kenntnisse besaßen, daß man
sie als Elektroingenieure ansprechen konnte; denn die höheren Schulen der damaligen
Zeit vermittelten so gut wie gar keine elektrotechnischen Kenntnisse. Aber diese
wenigen Männer der Industrie, die eine gründliche Kenntnis der
mathematisch-physikalischen Grundgesetze besassen, haben als Lehrer der Jugend, die
in den Kreis ihres unmittelbaren persönlichen Einflusses kam, viel zur Entwickelung
der Industrie beigetragen. Zu dieser Zeit wurden z.B. die meisten Prüfungen
elektrischer Apparate und Maschinen von mangelhaft vorgebildeten Arbeitern
vorgenommen, so daß, als sich mit der fortschreitenden Entwicklung der Industrie und
den Anforderungen, die an ihre Erzeugnisse gestellt wurden, die Notwendigkeit einer
wissenschaftlichen Prüfung der Apparate ergab, bald akademisch gebildete junge Leute
mit der Prüfung beauftragt wurden, die auf diese Weise praktische Kenntnisse
erwerben sollten. So wurde der „Prüflehrgang“ (Testing Course) ein wichtiger
und völlig selbständiger Teil fast aller großen elektrischen Fabrikationsbetriebe
und heutzutage unterhalten die größeren Werke besondere sorgfältig geleitete
Lehrgänge, um Fortgeschrittenen Unterricht und praktische Anleitung zu erteilen und
sie für diejenigen Zweige des Unternehmens auszubilden, zu denen sie sich durch
natürliche Eignung und Neigung hingezogen fühlen.
Eine bemerkenswerte Anzahl amerikanischer Ingenieure verdankt ihre Ausbildung zum
Teil oder vollständig dem Studium an europäischen Hochschulen, ein Umstand, der
meist einen günstigen Einfluß auf die nicht immer ganz modernen amerikanischen
Unterrichtsinstitute ausübt.
Die Bedeutung dieser Organisation der amerikanischen Großindustrie für die
Ingenieurausbildung erhellt aus der Tatsache, daß z.B. bei der General Electric
Company jährlich über 400 vorgeschrittene Studenten zur Ausbildung angenommen
werden. Die meisten von diesen treten in die „Prüflehrgänge“ ein, die in
jedem Hauptwerk der Firma eingerichtet sind, während eine kleinere Anzahl von ihnen,
die sich als Sondergebiet Physik oder Chemie gewählt haben, unmittelbar in den
Laboratoriumsbetrieb eintreten.
Eine mehrjährige Erfahrung hat gezeigt, daß annähernd 50% aller jungen Leute ein
dauerndes Arbeitsverhältnis mit der betreffenden Firma eingeht, während der
Rest bei den Kunden Stellung einnimmt oder, eigener Initiative folgend, anderen
Berufen sich zuwendet.
Während praktisch alle Studenten des Maschinenbaufaches das erste Jahr im
„Prüflehrgang“ verbringen, beginnt noch vor Ende dieses Zeitabschnitts
der Auswahlprozeß und der Uebergang der Teilnehmer in besondere Lehrkurse, die zur
Tätigkeit des Ingenieurs, Fabrikanten, Kaufmanns oder Verwaltungsbeamten
vorbereiten.
Eine besondere Gruppe von etwa 10 jungen Studenten des Maschinenbaufaches werden in
jedem Jahre ausgewählt, um in den „Fabrikationsbildungskursus“ (Factory
Training Course) einzutreten. Um diesen Studierenden zunächst Erfahrung in den
Fabrikationsvorgängen zu vermitteln, werden ihnen fortlaufend Angaben über die
wichtigsten Zweige des Fabrikbetriebes an die Hand gegeben. Gleichlaufend damit
liefern sie auch Klausurarbeiten über Wirtschaft, Kalkulation und Organisation. Sie
sind dazu berufen, in verantwortliche Stellen der Fabrikationsorganisation
hineinzuwachsen.
Die Bedeutung, die die amerikanische Industrie wissenschaftlich und praktisch gut
vorgebildeten Ingenieuren beimißt, ersieht man aus der Tatsache, daß vor etwa 2
Jahren auf einer Konferenz leitender Ingenieure der General Electric Company
beschlossen wurde, eine kleine Anzahl von Ingenieuren mit hervorragender Kenntnis
und Erfahrung in der technischen Anwendung mathematisch-physikalischer Theorien
heranzubilden; diese Ingenieure sollen nicht nur bei der Lösung schwieriger
technischer Aufgaben, wie sie in der Fabrikation zuweilen auftreten, zuständig sein,
sondern sie sollen auch dazu berufen sein, ganz neue Probleme auf unerforschten
Gebieten zu lösen.
Die Aufgabe bestand daher nicht so sehr darin, die Heranbildung sehr gut
vorgebildeter Spezialisten zu erzielen, sondern eine beschränkte Anzahl von
Ingenieuren mit guten und vielseitigen Allgemeinkenntnissen heranzubilden.
Es wurde die Anzahl von 6–10 Ingenieuren für diese Posten als genügend erkannt und
die Heranbildung von einem wirklich hervorragenden Mann mit merklich schöpferischer
Begabung alle 2 Jahre für nötig erachtet. Daher wurden versuchsweise im ersten Jahre
von 71, im zweiten Jahre von 101 Bewerbern je 30 Mann zu diesen – 3jährigen – Kursen
zugelassen, so daß angesichts des Umstandes, daß diese Leute nur einen Teil einer
Gruppe von ca. 400 Ingenieuren mit akademischer Bildung darstellen, ein sehr hohes
Maß von Auslese anzuwenden war, um die Kandidaten für diesen Kursus zu sichten. Nach
einem Jahre wurden von den 30 Leuten 10 ausgewählt, die in die zweite Klasse der
Vorbereitung übertraten; und es ist zu erwarten, daß aus dieser Gruppe einzelne
hervorgehen werden, die großen Einfluß auf die zukünftige Entwicklung der Industrie
ausüben werden.
Die Amerikaner sind sich bewußt, daß in dem Maße, wie ein wirkliches Talent übersehen
oder an den falschen Platz gestellt wird, das Wohl der Allgemeinheit beeinträchtigt
wird, und daß deshalb dafür Sorge zu tragen ist, daß besondere Eignung entdeckt und
an der richtigen Stelle innerhalb des Volksganzen Verwendung findet.
Dr. H. Neumann.