Titel: | Die Kunstseiden-Industrie als Einkäufer. |
Autor: | Castner |
Fundstelle: | Band 343, Jahrgang 1928, S. 202 |
Download: | XML |
Die Kunstseiden-Industrie als
Einkäufer.
Die Kunstseiden-Industrie als Einkäufer.
Hatte die deutsche Kunstseiden-Industrie in der Vorkriegszeit unbestritten den
ersten Platz auf dem Weltmarkte inne, so sank sie in den ersten Nachkriegsjahren auf
die vierte Stelle hinab, um nach mühevollem Ringen den Erfolg buchen zu können, daß
sie jetzt wieder den zweiten Platz einnimmt. Das ist zweifellos ein
außerordentlicher Fortschritt, der in erster Linie der Güte der deutschen Kunstseide
zuzuschreiben ist. Diese wiederum steht in engster Abhängigkeit einerseits von den
zu ihrer Herstellung verwendeten Rohstoffen, andererseits von den Maschinen, die zu
deren Bearbeitung herangezogen werden.
Im Gegensatz zur gesamten übrigen Textilindustrie, die in erheblichem Umfange auf die
Einfuhr ausländischer und überseeischer Rohstoffe angewiesen ist, befindet sich die
Kunstseiden-Industrie in der günstigen Lage, nur inländische Rohstoffe zu
benötigen, soweit nicht für bestimmte Sonderzwecke Baumwolle mit verarbeitet werden
muß. Aus diesem Grunde ist es auch ganz erklärlich, daß die deutsche
Kunstseiden-Industrie, ganz besonders in Anbetracht ihres fortgesetzt steigenden
Umsatzes, einen immer größeren Einfluß auf die Gestaltung des gesamten deutschen
Wirtschaftslebens gewinnt.
Als Bezugsquellen für die Rohstoffe kommen auf der einen Seite die chemische, auf der
anderen Seite die Zellstoffindustrie in Betracht. Um welche beträchtlichen Werte es
sich dabei handelt, mag daraus hervorgehen, daß – wie die DAZ. in einem in ihrer
Morgenausgabe vom 15. August d. J. erschienenen Aufsatz angibt- die deutsche
Kunstseiden-Industrie im Jahre 1927 allein Chemikalien
(vor allem Aetznatron, Schwefelkohlenstoff, Schwefelsäure, Kupfervitriol,
Ammoniakgaswasser usw.) im Gesamtwerte von über 40 Millionen Reichsmark bezogen und
verarbeitet hat. Bei der weit überragenden Vormachtstellung, die die deutsche
chemische Industrie auf dem gesamten Weltmarkte einnimmt, ist es selbstverständlich,
daß sie allein die Versorgung der deutschen Kunstseiden-Industrie mit ihren
Erzeugnissen übernimmt und ausführt, so daß die genannten Werte in voller Höhe der
deutschen Wirtschaft und dem deutschen Volksvermögen erhalten bleiben. Zu bemerken
ist hierzu noch, daß die genannte Zahl nur schätzungsweise den Bedarf an Chemikalien
angibt, die im laufenden Jahr 1928 bei der gewaltig gestiegenen Nachfrage nach
Kunstseidengegenständen aller Art zweifellos sehr beträchtliche Erhöhungen erfahren
wird.
In einer weit weniger günstigen Lage befindet sich die deutsche Zellstoffindustrie,
die der zweite hauptsächliche, ja sogar für Zellstoffe der alleinige
Rohstofflieferant der deutschen Kunstseiden-Industrie sein könnte. Daß dies
bedauerlicherweise nicht der Fall ist, ist nicht auf ihr eigenes Schuldkonto zu
buchen. Nach langwierigen Forschungen und Versuchen ist es der deutschen
Zellstoffindustrie gelungen, einen für die Kunstseidenherstellung besonders
geeigneten Zellstoff von hohem Zellulosegehalt zu schaffen, der allen gleichartigen
ausländischen Erzeugnissen in jeder Beziehung mindestens ebenbürtig ist. Wenn
trotzdem ein erheblicher Teil des auf etwa 250000 Dz. im Werte von rund 12 Millionen
Reichsmark geschätzten jährlichen Zellstoffbedarfes der deutschen
Kunstseidenindustrie aus dem Auslande, namentlich aus den nordischen Ländern bezogen
wird, so hat sie sich damit durchaus kein Ruhmesblatt für ihre Geschichte beschafft.
In Anbetracht der hervorragenden Güte und der Preiswürdigkeit des deutschen
Zellstoffes ist dieses Verhalten der deutschen Kunstseiden-Industrie einfach nicht
zu verstehen. Dies um so weniger, als sie doch wissen muß, daß die an das Ausland
für erfolgte Lieferungen gezahlten Summen für die deutsche Wirtschaft restlos
verloren sind. Außerdem wird durch solche deutsche Auslandsaufträge den fremden
Arbeitern Lohn und Brot verschafft, während zahlreiche einheimische Arbeitskräfte
wegen Mangel an Aufträgen der Erwerbslosenfürsorge anheimfallen, also indirekt auch
wieder von der deutschen Industrie bezahlt werden müssen, jedoch mit dem
Unterschiede, daß sie für diese Summen keinen Gegenwert in Gestalt geleisteter
Arbeit erhält.
Noch viel ungünstiger aber ist das Verhältnis zwischen der Kunstseiden- und der
Maschinenindustrie, die eigentlich der alleinige Lieferant aller für die
Kunstseiden-Erzeugung erforderlichen Maschinen sein sollte, wozu sie auch vollkommen
in der Lage ist. Den besten Beweis hierfür erbringt die große Wertschätzung, die
diese Maschinen im gesamten Auslande genießen und ihre infolgedessen fortgesetzt
steigende Ausfuhr. Von den verschiedenen Arten von Kunstseiden-Spinnmaschinen wird
augenblicklich den Zentrifugen – Spinnmaschinen die größte Beachtung
entgegengebracht. Auch auf diesem Gebiet hat die deutsche Maschinenindustrie
sich in verhältnismäßig kurzer Zeit einen Weltruf erworben, namentlich seitdem es
der deutschen elektrotechnischen Industrie gelungen ist, hierfür besonders geeignete
und bewährte elektrische Antriebe zu schaffen, die infolgedessen gleichfalls in der
ganzen Welt die weiteste Verbreitung gefunden haben. In Preiswürdigkeit,
Brauchbarkeit und Lieferbarkeit der von der Kunstseiden-Industrie benötigten
Maschinen ist demnach die deutsche Maschinenindustrie vollkommen in der Lage, allen
Ansprüchen gerecht zu werden.
Um so erstaunlicher ist es daher, daß gerade die deutsche Kunstseiden-Industrie von
den sich ihr hier bietenden Möglichkeiten nur verhältnismäßig wenig Gebrauch macht.
Auch in dieser Beziehung steht sie damit scharf im Gegensatz zu der von ihr sonst
immer wieder als mustergültiges Vorbild angeführten gleichartigen Industrie des
Auslandes. Während dort bei Maschinenbeschaffungen in erster Linie die einheimische
Industrie berücksichtigt wird, so daß aus dem Auslande nur diejenigen Maschinen oder
deren Teile bezogen werden, die im eigenen Lande überhaupt nicht oder wenigstens
nicht in gleicher Güte hergestellt werden können, wendet sich in gleichliegenden
Fällen die gesamte deutsche Textil-Industrie mit besonderer Vorliebe an das Ausland,
vor allem an England, wo allerdings die Textilfabriken schon seit Generationen einer
besonderen Pflege und Fürsorge teilhaftig werden. Bei dem anerkannt hohen
Entwicklungsstande der deutschen Textilmaschinenindustrie und der bewährten Güte
ihrer Erzeugnisse ist jede derartige Einfuhr nicht nur gänzlich unnötig und
überflüssig, sondern in Anbetracht der überaus schwierigen Lage der gesamten
deutschen Wirtschaft als schädlich und verwerflich zu bezeichnen.
Noch wieder anders liegen die Verhältnisse bei der deutschen Kunstseiden-Industrie,
über die weniger Klage zu führen ist wegen einer solchen überflüssigen Einfuhr von
Maschinen aus dem Auslande. Dafür fertigt sie sich aber nicht nur die etwa
erforderlich werdenden Ersatzteile, sondern auch einen erheblichen Teil ihres
gesamten Maschinenparkes selbst an. Als Begründung hierfür wird in der Regel
angeführt, daß nur auf diese Weise einer Preisgabe ihrer Betriebsgeheimnisse
wirklich vorgebeugt werden kann. Es soll an dieser Stelle nicht untersucht werden,
inwieweit diese Begründung stichhaltig ist und ob die deutsche Maschinen-Industrie
ein derartiges Mißtrauen überhaupt verdient. Festgestellt werden muß dagegen die
Tatsache, daß dieses Verfahren für alle Beteiligten außerordentlich schädlich ist,
und zwar sowohl in technischer, als auch in wirtschaftlicher Beziehung.
Es ist doch eine bekannte Erfahrung, daß jede selbstgebaute Maschine beträchtlich
teurer wird, als wenn man sie von einer Spezialfabrik bezieht, selbst wenn der
erheblich größere Zeitaufwand für die Selbstanfertigung gar nicht in Rechnung
gestellt wird. Die Ursache liegt vor allem in der mangelhaften Ausrüstung der eignen
Werkstatt mit den erforderlichen Spezialmaschinen, Vorrichtungen und Werkzeugen.
Ferner fehlen dem bei der
Kunstseiden-Industrie beschäftigten Konstrukteur in den meisten Fällen
sämtliche Spezialerfahrungen des Maschinenbaues, die er sich erst in langwieriger
und mühseliger Arbeit und nach Aufwendung nicht unbeträchtlicher Geldopfer erwerben
muß. Der größte Nachteil aber, den die Kunstseiden-Industrie durch diese falsche
Einstellung dem Maschinenbau gegenüber verursacht, dessen Folgen sie aber allerdings
auch zum weitaus größten Teile selbst zu tragen hat, ist die Hemmung einer schnellen
Weiterentwicklung der Spezialmaschinen. Letzere ist nur möglich, bei einem engen
Zusammenarbeiten beider Industrien. Gerade und nur durch das Hineingehen in die
Betriebe und durch ein sorgfältiges Studium der dort vorliegenden besonderen
Verhältnisse kann der Maschinenbau, gestützt auf seine umfangreichen und
vielseitigen Erfahrungen auf allen in Betracht kommenden Gebieten – es handelt sich
auch um die Auswertung etwa zur Verfügung stehender Betriebserfahrungen mit
ähnlichen Maschinen, ferner um die Ausnutzung von Erfahrungen bei der Bearbeitung
und beim Zusammenbau der einzelnen Maschinenteile und nicht zuletzt auch um die
Auswahl der am besten geeigneten Werkstoffe für die verschiedenen Teile der
Maschinen – allen Anforderungen voll und ganz gerecht werden. Ganz ähnlich liegen
die Verhältnisse in bezug auf die elektrische Ausrüstung der zur
Kunstseide-Erzeugung dienenden Maschinen.
Nun ist aber die Kunstseiden-Industrie gar nicht in der Lage, alle benötigten
Maschinenteile in ihren eigenen Werkstätten herzustellen, sondern sie ist immer
gezwungen, eine Anzahl von ihnen fertig zu beziehen. Hiermit ist dann bereits nicht
nur die Möglichkeit, sondern vielmehr die Wahrscheinlichkeit einer Einfuhr
ausländischer Erzeugnisse zum Schaden der einheimischen Industrie und der
gesamten deutschen Wirtschaft gegeben. Es muß in diesem Zusammenhange auch auf das
traurige und durchaus zu mißbilligende Beispiel hingewiesen werden, daß eine sehr
große deutsche Kunstseiden-Fabrik dadurch gegeben hat, daß sie elektrisch
angetriebene Spinnzentrifugen in erheblichem Maße aus Holland und England einführt,
trotzdem ihr unzweifelhaft bekannt ist, daß die deutsche Maschinen-Industrie sehr
wohl in der Lage ist, ihr mindestens gleichwertige Erzeugnisse zu gleichen
Bedingungen zu liefern.
Nur durch ein enges Zusammenarbeiten von Kunstseiden- und Maschinenindustrie ist es
möglich, mit der gewünschten und zur Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit
notwendigen Schnelligkeit die in Frage kommenden Maschinen auf den denkbar höchsten
Grad der Vollkommenheit zu entwickeln. Je vollkommener eine Maschine, um so
leistungsfähiger ist sie auch. Entsprechend der gesteigerten Leistungsfähigkeit
verringern sich die Gestehungskosten und damit auch die Verkaufspreise. Letzteres
wiederum ist die Grundlage für eine Erhöhung des Umsatzes. Kehrt die
Kunstseiden-Industrie in Zukunft dem bisherigen unwirtschaftlichen Verfahren der
Selbstherstellung ihrer Maschinen den Rücken und wendet sich dieserhalb
vertrauensvoll an die deutsche Maschinenindustrie, so tut sie damit nicht nur dieser
einen Gefallen, sondern sie dient damit dem gesamten deutschen Volke und letzten
Endes auch sich selbst, indem sie Arbeits- und Verdienstmöglichkeit für zahlreiche
einheimische Hand- und Kopfarbeiter schafft, die auf diese Weise der Mittel
verzehrenden Erwerbslosenfürsorge entrissen und der Werte schaffenden Wirtschaft
zugeführt werden.
Dipl.-Ing. Castner.