Titel: | Ueber den Begriff der Geschwindigkeit in der physikalischen Chemie und der chemischen Technologie. |
Autor: | Hans Schwerdtfeger |
Fundstelle: | Band 344, Jahrgang 1929, S. 45 |
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Ueber den Begriff der Geschwindigkeit in der
physikalischen Chemie und der chemischen Technologie.
Von Hans Schwerdtfeger.
SCHWERDTFEGER, Ueber den Begriff der Geschwindigkeit.
In einigen früheren AbhandlungenBauart J. M. Walter, D. R. P. 446164 und Zusatzpatente, D. R. P.
angemeldet. des Verf. wurde häufig mit einem Begriff gearbeitet,
den man schlechthin als eine „Geschwindigkeit“ bezeichnet, ohne daß man sich
vielfach darüber klar ist, wie dieser Begriff mit dem zusammenhängt, den man sonst
im allgemeinen als „Geschwindigkeit“ bezeichnet, der natürlicherweise
mechanischen Ursprungs ist. So spricht man von Reaktionsgeschwindigkeit bei
chemischen Reaktionen; ist insbesondere der chemische Vorgang die Korrosion des
Eisens, so spricht man von RostgeschwindigkeitVerlag Julius Springer Berlin.; ferner
nennen wir noch Lösungsgeschwindigkeit und Kristallisationsgeschwindigkeit, deren
formale Erklärung man z.B. in den soeben erwähnten Aufsätzen findet. In mancherlei
Hinsicht erweist es sich nun als wichtig und vorteilhaft, die Begriffsbildung der
Geschwindigkeit in diesem Zusammenhang recht genau zu untersuchen, und zwar nicht
nur mit Rücksicht auf die numerische Bestimmung der Maßgrößen der Geschwindigkeiten,
obwohl für diese natürlich auch die Kenntnis der Begriffe eine wesentliche
Voraussetzung ist, sondern vielmehr besonders, weil die genaue Kenntnis der
Begriffe, wie ich im Falle der Kristallisationsgeschwindigkeit in der Abhandlung III
gezeigt zu haben glaube, für die Erforschung des betr. Vorganges und für seine
Erfassung in der Theorie von Bedeutung sein kann. Zusammenfassend wiederholen wir,
daß es sich auf diesem Wege als unmöglich herausstellte, bei einem
Kristallisationsvorgang, wie er in praxi verläuft, von einer
Kristallisationsgeschwindigkeit zu sprechen, daß vielmehr erst eine ziemlich
starke Idealisierung einsetzen muß, ehe eine exakte Definition des Begriffes möglich
wird. Zu ähnlichen Ergebnissen von einem weit allgemeineren Standpunkt aus, nämlich
alle die verschiedenen chemischen Geschwindigkeitsbegriffe umfassend, sollen die
folgenden Ausführungen hinleiten.
§ 1. Mechanische Analogie. – Vor allem weiteren erweist es
sich als zweckmäßig, an den elementaren Geschwindigkeitsbegriff und seine
einfachsten Verallgemeinerungen, wie sie uns in der Mechanik entgegentreten, zu
erinnern. Wir denken einen Massenpunkt, welcher sich längs einer geraden Bahn unter
dem Einfluß irgendeiner Kraft bewegt. Zur Zeit t befinde er sich an der Stelle s der
Bahn, gemessen von einem gewissen Anfangspunkt s0
an, in der er sich zur Zeit t = 0 befand. In einem noch etwas früheren Zeitpunkt
t1 (t > t1)
befinde sich der Punkt an der Stelle Si seiner Bahn. Es handelt sich darum,
festzustellen, was man unter der Geschwindigkeit des Punktes an der Stelle Si
versteht. Man versteht darunter die Zahl, die durch den folgenden Grenzwert, falls
er existiert, dargestellt werden kann:
(1,1) \lim_{s\to{s_1}}\
\frac{s_1-s}{t_1-t}=\left(\frac{d\,s}{d\,t}\right)_{t_1}=s_1=v_1
Der Zusatz „falls er
existiert“ ist sehr wesentlich, denn a
priori braucht ein Grenzwert ja gar nicht zu existieren, wenn er in dieser
allgemeinen Weise eingeführt wird. Aber wir wollen immer annehmen, daß die
Funktion
s = s(t)
so beschaffen ist, daß der Limes für alle in Frage kommenden
t-Werte existiert. Entsprechend soll auch für die ähnlichen gleich noch zu
behandelnden Fälle gelten. Ist die Bewegung insbesondere gleichförmig, so ergibt
sich s = const. für alle t. Die nächste Verallgemeinerung ist die, daß wir die
Geradlinigkeit des Weges aufgeben; die
Definition des Geschwindigkeitsbegriffes bleibt formal unverändert. Es sind dann
nur gewisse Voraussetzungen über die Bahnkurve notwendig, damit die Festsetzung
einen anschaulichen Sinn behält; auch diese sehen wir als erfüllt an.
Wir verallgemeinern weiter; an die Stelle des sich bewegenden Punktes lassen wir
irgendeine sich bewegende Kurve C treten. Bei der Bewegung überstreicht C einen
gewissen Flächeninhalt F = F(t), der von einer gewissen Anfangszeit an gemessen – es
sei etwa F(0) = 0 –, eine Funktion der Zeit t ist. Dies angenommen definieren wir
die Flächengeschwindigkeit v durch
(1.2) v_1=\lim_{t\to{t_1}}\
\frac{F_1-F}{t_1-t}=\left(\frac{d\,F}{d\,t}\right)_{t=t_1}\,(F_1=F\,(t_1))
und zwar ist dies die Flächengeschwindigkeit zur Zeit t1. Es ist ohne weiteres möglich, die Voraussetzungen
weitgehend zu komplizieren, also anzunehmen, daß die Kurve C sich während der
Bewegung irgendwie deformiere.
Ein Schritt weiter führt zur Körpergeschwindigkeit: An die Stelle der beweglichen
Kurve C setzen wir eine bewegliche, auch wieder irgendwie deformierbare Raumfläche
F., die bei der Bewegung einen Rauminhalt V = V(t) überstreicht. Als
Körpergeschwindigkeit zur Zeit t1 erklären wir den
Grenzwert
(1,3)
v_1=\left(\frac{d\,V}{d\,t}\right)_{t=t_1}
Hier ist eine Verallgemeinerung auch wieder in der Weise
möglich, daß man an Stelle der einen Fläche ein System von Flächen ins Auge faßt;
insbesondere kann man dann auch noch annehmen, daß alle diese Flächen geschlossen
sind, also ein Raumteil eingrenzen und daß ihre ganze Bewegung in Dehnung oder
Zusammenziehung besteht. (Vgl. I und II.)
Dies alles sind natürlich nur Andeutungen, die an bekannte Dinge erinnern sollen in
einer Form, wie wir sie nachher gebrauchen. Man wird leicht zugeben, daß der Begriff
der Körpergeschwindigkeit, zu dem wir durch ganz einfache Verallgemeinerungen nach
und nach gekommen sind, sich noch durchaus mit dem deckt, was man
„gefühlsmäßig“ als „Geschwindigkeit“ bezeichnet. Das spezielle
mathematische Gesetz, nach dem die Ausdehnung oder Zusammenziehung vor sich geht,
ist natürlich in diesem allgemeinen Rahmen, sowohl was seinen Aufbau, als auch was
seine physikalische Bedeutung angeht, belanglos; wichtig ist nur, daß es durch eine
differenzierbare Funktion der Zeit gekennzeichnet
wird. Dies muß man trotz Unkenntnis der dadurch vorgenommenen Einschränkung der
Allgemeinheit immer fordern. Aehnliches beobachtet man bei aller mathematischen
Naturbeschreibung.
§2. Der Begriff der Massengeschwindigkeit. – Auf Grund der
vorstehenden allgemeinen Betrachtungen über den Geschwindigkeitsbegriff in seiner
für die vorliegenden Zwecke geeigneten weitesten Fassung wird es möglich sein,
Aussagen über die in Chemie und Technologie auftretenden Geschwindigkeiten zu
machen, die wir im wesentlichen als Körpergeschwindigkeiten erkennen werden; wir
wollen sie als Massengeschwindigkeiten zusammenfassend
bezeichnen, da es sich bei den Vorgängen um Austausch oder Veränderungen von
Massen handelt.
Um sogleich in medias res zu gelangen, denken wir zwei in irgendeiner beliebigen
Weise von einander getrennte Massen oder Massebehälter, zwischen denen ein
vollständiger oder teilweiser Austausch irgendwie möglich ist. Wir nennen die beiden
Massenbehälter und auch die in ihnen enthaltenen Massen
\frakfamily{A} und \frakfamily{B}. An sich
ist es gleichgültig, welche der beiden Massen die gewinnende und welche die
verlierende ist und wir können annehmen, daß durch irgendeine Veränderung der
äußeren Umstände eine Rollenvertauschung bewirkt werden kann. Um aber etwas
Bestimmtes zu sehen, werde angenommen, daß in der in Frage kommenden Zeitspanne
\frakfamily{A} der abgebende,
\frakfamily{B} der zunehmende Teil ist. Den Vorgang des
Massenüberganges von \frakfamily{A} nach
\frakfamily{B} wollen wir kurz durch das Zeichen
(\frakfamily{A} ➛ \frakfamily{B}) angeben.
Ferner bedenken wir, daß man den Vorgang jeweils auf zweierlei Weise eindeutig
kennzeichnen kann: Einmal durch die Größe der Masse in 51 zur Zeit t, die gegeben
sein mag durch
A = A(t),
sodann aber auch durch die entsprechende auf
\frakfamily{B} bezgl. Funktion B = B(t). Zwangsläufig muß für
alle t zwischen diesen beiden Funktionen nämlich der folgende Zusammenhang
bestehen:
(2.1) A(t) + B(t) = c,
wobei c eine Konstante ist, welche das Maß der Gesamtmasse
darstellt. Diese Beziehung ist von fundamentaler Bedeutung. (Man nennt sie das
Gesetz der Erhaltung der Masse.) Die beiden Funktionen A, B sollen wieder
differenzierbar sein. Dann ist die Massengeschwindigkeit
des Vorganges (\frakfamily{A}\,\rightarrow\,\frakfamily{B}) zur
Zeit t definiert durch die Beziehung
(2.2) v_1\,\{\frakfamily{A},\ \frakfamily{B}\}=\lim_{t\to{t_1}}\
\frac{B\,(t_1)-B\,(t)}{t_1-t}=\left(\frac{d\,B\,(t)}{d\,t}\right)_{t=t_1}
Aus (2,1) folgt dann sofort:
(2,3)
-\frac{d\,B\,(t)}{d\,t}=\frac{d\,A\,(t)}{d\,t}
Für den speziellen Fall des gleichförmigen Verlaufs des
Vorganges kann man die Massengeschwindigkeit auch erklären als das Maß der in der
Zeiteinheit beförderten Masse. Gefühlsmäßig ist es zunächst nicht klar, inwiefern
man die durch (2,2) erklärte Zahl als Geschwindigkeit bezeichnen kann; mit Rücksicht
auf die Betrachtungen von § 1 kann man diese Frage aber ganz leicht klären.
Setzen wir zunächst homogene Massenverteilung in \frakfamily{A}
und \frakfamily{B} voraus; die Dichte sei α bzw. β, die Volumina
VA bzw. VB,
beides Funktionen von t Dann haben wir drei Fälle zu
unterscheiden
1° Die (zunehmende) Masse \frakfamily{B} hat
eine sie begrenzende Oberfläche F.
2° Die (abnehmende) Masse \frakfamily{A} hat
eine sie begrenzende Oberfläche F.
3° Die genannte Eigenschaft kommt
\frakfamily{A} und \frakfamily{B} zu.
(Hier könnte man die Kontinuitätsgleichung formulieren; dieser Fall ist aber in
diesem Zusammenhang uninteressant.)
Sodann müssen wir jetzt eine bestimmte Voraussetzung über die Art machen, wie die
Ausdehnung oder Zusammenziehung der begrenzenden Fläche vor sich geht, was
in der allgemeinen Einleitung nicht möglich war: Wir nehmen an, daß die Veränderung
der Oberfläche durch Hinzutreten oder Abgehen von Masse bewirkt wird. Und dann sehen
wir, daß die Massengeschwindigkeit aus der Körpergeschwindigkeit durch
Multiplikation mit einem konstanten Faktor, der Dichte,Vergl. Obermoser, E.T.Z. (Springer-Verlag. Heft 15), 1925. Vergl. Obermoser,
„Maschinenbau“ (V.D.J. -Verlag) Heft 16, 1925. Vergl. Foerster
„Werkstattstechnik“ (Springer-Verlag) Heft 10, 1926.
hervorgeht. Im Fall 1° kann man eine bestimmte Körpergeschwindigkeit vb der
Ausdehnung von B angeben und hat dann die folgenden drei Beziehungen
(2.4) v\,\{\frakfamily{A},\
\frakfamily{B}\}=\frac{d\,B}{d\,t},
v_s=\frac{d\,V_s}{d\,t}, \beta\
\frac{d\,V_s}{d\,t}=\frac{d\,B}{d\,t}.
Entspreched gilt im Fall 2°:
(2,5) v\,\{\frakfamily{A},\
\frakfamily{B}\}=-\frac{d\,A}{d\,t},
v_A=\frac{d\,V_A}{d\,t}, \alpha\
\frac{d\,V_A}{d\,t}=\frac{d\,A}{d\,t},
Im Falle 3° gilt dagegen:
(2.6) αVA= – β VB.
In den Beziehungen. (2,4/5/6) ist alles wesentliche, was sich
von so allgemeinem Standpunkt über die Massenänderungsvorgänge sagen läßt,
enthalten. Alles weitere ergibt sich durch Einschränkung in den Voraussetzungen.
Nicht in diesem Zusammenhang, aber wohl in anderem, ist besonders interessant Fall
3°. Man kann da etwa folgendermaßen einschränken: Die Beförderung der Massen von
\frakfamily{A} nach \frakfamily{B} ist so
vorzunehmen, daß die Kosten der Beförderung am kleinsten werden; die Lösung dieser
Aufgabe, des „Probleme des désblais et des remblais,“ erwies sich als sehr
schwierig und forderte eminente mathematische Hilfsmittel.August Rotth, Das Telephon und sein Werden. Berlin, Julius Springer,
1927.
Setzen wir für das weitere ein für allemal voraus, daß die Massengeschwindigkeit eine
stetige Funktion der Zeit ist. Ferner betrachten wir unseren Vorgang in einer
solchen Zeitspanne, in der er eine Umkehrung erfährt, d.h. in der Zeitspanne to ≤ t ≤ t' gelte (\frakfamily{A}
→
\frakfamily{B}) und in der Zeitspanne t' ≤ t ≤ t1 gelte (\frakfamily{B} →
\frakfamily{A}). Wenn dann v(t) die Massengeschwindigkeit in
der Zeit to ≤ t ≤ t1
darstellt, so hat man
v(t)=v\{\frakfamily{A},\ \frakfamily{B}\}, wenn
to ≤ t ≤ t'
=v\{\frakfamily{B},\ \frakfamily{A}\}, wenn t' ≤
t ≤ t1
Da v\{\frakfamily{B},\ \frakfamily{A}\} und
v\{\frakfamily{A},\ \frakfamily{B}\} verschiedene Vorzeichen
haben müssen, so muß wegen der vorausgesetzten Stetigkeil v(t) an der Stelle t' verschwinden. Dies gilt für alle Umkehrstellen.
Sodann eine grundsätzlich wichtige Bemerkung. Bisher war immer vorausgesetzt, daß es
sich bei allen Aenderungen der Größen der Massen uni solche handelt, bei denen die einzige unabhängige Veränderliche die Zeit
ist. Wir wollen zeigen: Nur unter dieser
Voraussetzung kann man von einer Massengeschwindigkeit bei einem Vorgang
(\frakfamily{A} → \frakfamily{B}) überhaupt sprechen. Falls außer der Zeit noch eine andere
unabhängige Veränderliche auftritt, ist as nicht möglich, zu einem vernünftigen
Geschwindigkeitsbegriff zu gelangen. Sind dagegen die übrigen auftretenden
Veränderlichen selbst wieder Funktionen der Zeit, so ist die Begriffsbildung der
Geschwindigkeit sehr wohl möglich. Beweisen wir zuerst die erste Behauptung. Wir
hatten eine Geschwindigkeit als eine Ableitung einer gewissen Funktion nach der Zeit
erkannt; die Festsetzung bezog sich aber nur auf solche Funktionen, deren einzige
unabhängige Veränderliche die Zeit war. Ist dies nicht der Fall, so kann man nur
eine partielle Ableitung nach t bilden, der man nicht die Bedeutung einer
Geschwindigkeit zulegen kann, da diese doch grob gesprochen das Maß der
Gesamtänderung darstellen soll. Betrachten wir beispielsweise einen Vorgang
(\frakfamily{A} → \frakfamily{B}), bei
dem
A = A(t, T, p), B = B(t, T, p)
gilt, wo T die absolute Temperatur und p einen Druck
darstellen möge. Das Maß der Gesamtänderung gibt dann die Größe
(2,6)
d\,B=\frac{\delta\,B}{\delta\,t}\,d\,t+\frac{\delta\,B}{\delta\,T}\,d\,T+\frac{\delta\,B}{\delta\,p}\,d\,p=-d\,A
Anders dagegen, wenn T und p selbst wieder Funktionen der Zeit
sind, also eine Darstellung in der Form T = T(t), p = p(t) zulassen. Dann gilt, wenn
der Punkt * die Ableitung nach t bedeutet:
(2,7) v\ \{\frakfamily{A},\
\frakfamily{B}\}=\frac{d\,B}{d\,t}=\frac{\delta\,B}{\delta\,t}+\frac{\delta\,B}{\delta\,T}\,\dot{T}+\frac{\delta\,B}{\delta\,p}\,\dot{p}=-\frac{d\,A}{d\,t}
und durch diesen Ausdruck wird im gewöhnlichen Sinne eine
Geschwindigkeit dargestellt. (Vgl. III.)
Der Sonderfall, daß weder \frakfamily{A} noch
\frakfamily{B} eine wohl bestimmte Oberfläche besitzen, ist
absichtlich vorläufig beiseite gelassen, da er eine vollkommene Abstraktion von den
anfänglich gegebenen mechanischen Vorstellungen verlangt. Wir wollen jetzt
nachträglich übereinkommen, auch für diesen Fall die getroffenen Festsetzungen zu
übertragen, obwohl die gegebene anschauliche Begründung dann nicht mehr stichhaltig
ist. Eine logische Schwierigkeit besteht da nicht, da man die
Definition der Massengeschwindigkeit ja auch unabhängig von der
Körpergeschwindigkeit fassen kann.
§ 3. Die vektorielle Massengeschwindigkeit. – Für das
folgende ist es durchaus notwendig, sich auf die drei vorangestellten Fälle zu
beschränken und den soeben noch nachgetragenen Sonderfall außer acht zu lassen; um
nämlich überhaupt die Möglichkeit zu bekommen, die vektorielle Massengeschwindigkeit
einzuführen, braucht man ein festes System von
Richtungen, auf die man diese selbst mit „Richtung behaftete Größe“
beziehen kann. Ein solches System von Richtungen wird uns allerdings durch die nach
irgendeinem wohl bestimmten Gesetz gebaute Oberfläche der Masse
\frakfamily{A} oder \frakfamily{B}
geliefert. Die über die Oberflächen zu treffenden Einschränkungen sind so
beschaffen, daß sie sich praktisch immer werden erfüllen lassen. Denn einmal kann es
sich um Lösungs- und Kristallisationsvorgänge handeln; dann ist die Art der
begrenzenden Oberflächen von Natur bestimmt. Zweitens kann es sich um technisch
wichtige chemische Reaktionen handeln, bei denen man weitgehendst imstande ist, die
begrenzenden Oberflächen zu beeinflussen. Demgemäß wollen wir folgendes annehmen:
Die Oberfläche soll so beschaffen sein, daß es immer möglich ist, sie durch eine
endliche Anzahl voneinander unabhängiger, bei dem zu betrachtenden Vorgang durch
stetig differenzierbare Funktionen der Zeit eindeutig bestimmte Größen in ihrer
räumlichen Ausdehnung festzulegen. Diese Größen bezeichnen wir durch x1, x2, ..., xm bzw. yl, y2, ..., yn, je
nachdem sie die Bestimmungsstücke von \frakfamily{A} oder von
\frakfamily{B} sind. In der allgemeinen Behandlung kann man
sich natürlich auf den Fall m = n = 3 beschränken, welcher zudem noch den Vorzug der
Anschaulichkeit hat. Durch Beispiele kann man leicht die Bedeutung der x erläutern.
Ist A etwa kugelförmig, so kommt man mit einer Größe x1 aus, etwa dem Radius; im Falle des Ellipsoids braucht man drei, etwa die
Halbachsen x1, x2,
x3. Die verschiedenen Kristallformen kann man
immer durch eine endliche Anzahl von Größen xy
charakterisieren. Unsere Voraussetzungen treffen also gerade die praktisch
vorliegenden Verhältnisse, um deren Beschreibung es sich handelt.
Dies angenommen betrachten wir einen Vorgang (\frakfamily{A} →
\frakfamily{B}) mit den Voraussetzungen von Fall 1°. Dann
gibt es für \frakfamily{B} eine bestimmte Oberfläche, die von den
drei Veränderlichen
y1 = y1(t) y2 = y2(t) y3 = y3(t)
abhängt. Das von der Oberfläche umschlossene Volumen, das wie
diese eine Funktion der Zeit ist, sei gegeben durch VB(t) = F(y1, y2, y3). Ist die Funktion F dann auch nach
den drei Veränderlichen partiell differenzierbar, so kann man die
Körpergeschwindigkeit berechnen:
(3,1)
\frac{d\,V_s}{d\,t}=\frac{\delta\,F}{\delta\,y_1}\,\dot{y_1}+\frac{\delta\,F}{\delta\,y_2}\,\dot{y_2}+\frac{\delta\,F}{\delta\,y_3}\,\dot{y_3}=\sum_{v=1}^3\,\frac{\delta\,F}{\delta\,y_v}\,\dot{y_v}.
und daraus durch Multiplikation mit der nicht notwendig
konstant gewählten Dichtet sofort die Massengeschwindigkeit; mit
\beta\,.\,F=\overline{F} kommt
(3,2) v\,\{\frakfamily{A},\
\frakfamily{B}\}=\frac{\delta\,\overline{F}}{\delta\,y_1}\,\dot{y_1}+\frac{\delta\,\overline{F}}{\delta\,y_2}\,\dot{y_2}+\frac{\delta\,\overline{F}}{\delta\,y_3}\,\dot{y_3}=\sum\,\frac{\delta\,\overline{F}}{\delta\,y_v}\,\dot{y_v}
Entsprechend haben wir in Fall 2°: Wenn VA(t) = G(x1? x2, x3)
(3,3) -v\,\{\frakfamily{A},
\frakfamily{B}\}=\sum_v\,\frac{\delta\,G}{\delta\,x_v}\,\dot{x_v}
Als die vektorielle Massen-Geschwindigkeit wird dann definiert der Vektor mit den drei Komponenten
(xl, x2, x3) und diesen Vektor
bezeichnen wir kurz durch
\frakfamily{x}. Entsprechendes gilt für den Vektor mit den
Komponenten (y1, y2,
y3), den wir symbolisch durch
\frakfamily{y} angeben.
Ferner betrachten wir die beiden Vektoren mit den Komponenten
\frac{\delta\,\overline{F}}{\delta\,y_1},\
\frac{\delta\,\overline{F}}{\delta\,y_2},\
\frac{\delta\,\overline{F}}{\delta\,y_3}\ \ \ \ \ \ ,\ \ \ \ \
{\delta\,\overline{G}}{\delta\,\dot{x_1}},\
\frac{\delta\,\overline{G}}{\delta\,\dot{x_2}},\
\frac{\delta\,\overline{G}}{\delta\,\dot{x_3}},
die man bekanntlich als die Gradienten der beiden Funktionen
\overline{\mbox{F, G}}, bezeichnet und durch
\frakfamily{grad}\ \overline{F} und
\frakfamily{grad}\\overline{G} abgekürzt andeutet. Aus (3,2)
und (3,3) sieht man dann sofort, daß
(3,4) v\{\frakfamily{A},\
\frakfamily{B}\}=(\frakfamily{y}\,.\,\frakfamily{grad}\,F)=–(\frakfamily{x}\,.\,\frakfamily{grad}\,g)
sein muß, wenn die Klammern (...) hier das skalare Produkt der
beiden Vektoren bedeuten. Durch diese Formeln wird in sehr übersichtlicher Weise der
Zusammenhang zwischen der skalaren und der vektoriellen Massengeschwindigkeit
dargestellt.
Ferner ergibt sich aus (3,4) ohne umständliche Rechnung sofort eine weitere
Bemerkung. Es geht daraus nämlich hervor, daß die skalare
Massengeschwindigkeit
v\{\frakfamily{A},\ \frakfamily{B}\}
auch dann gleich 0 sein kann, wenn
dies für die vektorielle Massengeschwindigkeit nicht zutrifft. Erstere
verschwindet nämlich auch dann, wenn die vektorielle
Massengeschwindigkeit auf dem Gradientvektor senkrecht steht, auf Grund
einer elementaren Eigenschaft des skalaren Produktes.
Diese letztere Feststellung erscheint besonders interessant mit Rücksicht auf die
Kristallisations-vorgänge, die in unserer hier durchgeführten Fallunterscheidung
unter 1° enthalten sind; es geht daraus hervor, daß das Verschwinden der skalaren
Massengeschwindigkeit nicht etwa ein Kriterium dafür ist, daß die Massen in dem
Kristall selbst sich gewissermaßen in Ruhe befinden. Ein Kriterium dafür liefert
erst das Verschwinden der vektoriellen Massengeschwindigkeit. Wenn man dies auch aus
anschaulichen Gründen von vornherein gewiß erwartet hat, so hat man doch nicht ohne
weiteres sagen können, in welcher Weise diese Verhältnisse mit der Gestaltung der
Oberfläche des kristallisierenden Stoffes zusammenhängen. In der Tat ist der
Zusammenhang mit dem Gradienten der Darstellungsfunktion als ein besonders einfacher
und immerhin merkwürdiger zu bezeichnen.
An einzelnen Beispielen kann man sich leicht noch die Bedeutung der Ergebnisse klar
machen; wegen Raummangels müssen wir auf die ausführliche Darstellung derselben
verzichten.O. v. Sichere r. „Hygiene des Auges,“ 2.
Aufl. 1913. Fritz Foerster. „Elektrolicht“
(Verlag Kesselringsche Hofbuchhandlung Frankfurt a. M. 1918). Es
möge aber vorbehalten bleiben, bei anderer Gelegenheit weitere Folgerungen aus dem
zuletzt herausgestellten Ergebnis auszugestalten. Endlich sei noch bemerkt, daß man
die ganzen Betrachtungen auch auf den Fall von mehr als zwei, etwa n veränderlichen
Massen \frakfamily{A}, \frakfamily{B},
\frakfamily{C}, ... \frakfamily{N}
ausdehnen kann. Jedoch ergibt sich dabei nichts wesentlich Neues.