Titel: | Neues aus dem Gebiet der elektrischen Straßenbahn. |
Autor: | R. Spies |
Fundstelle: | Band 344, Jahrgang 1929, S. 194 |
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Neues aus dem Gebiet der elektrischen
Straßenbahn.
Von Dipl.-Ing. R. Spies
(Berlin).
SPIES: Neues aus dem Gebiet der elektrischen
Straßenbahn.
Betrachtet man rückschauend die technische Entwicklung des elektrischen
Straßenbahnwesens, so ist ein etwa 1900 beginnender Stillstand in dieser Entwicklung
festzustellen. Bis dahin hatten sich gewisse Regelformen der elektrischen Ausrüstung
durchgebildet, während die Triebwagen äußerlich und in ihrer Inneneinrichtung nur
unwesentlich von den alten Pferdebahnwagen abwichen. Erst vor wenigen Jahren, als
der steigende Wettbewerb der Kraftomnibusse sich mehr und mehr fühlbar machte und
die Straßenbahn vor die Notwendigkeit stellte, ihr anscheinend sicher behauptetes
Gebiet gegen den Konkurrenten zu verteidigen, setzte eine lebhafte Entwicklung in
fast allen Zweigen des elektrischen Straßenbahnwesens ein.
Textabbildung Bd. 344, S. 193
Abb. 1.Leichtgewichts-Siaßenbahnmotor (Tatzenlagerbauart).
Neben rein auf Verkehrswerbung zugeschnittenen Verbesserungen, wie z.B. an der
Innenausstattung der Wagen, war die Betriebsführung zu verbilligen und zu verbessern
und die Reisegeschwindigkeit zu erhöhen. Da hinsichtlich der höchstzulässigen
Fahrgeschwindigkeit nicht unerhebliche Beschränkungen durch die Gesetzgebung und
sonstige Vorschriften bestehen, bedingt die Erhöhung der Reisegeschwindigkeit die
Wahl größerer Anfahrbeschleunigung und Bremsverzögerung, den Einbau von Motoren
größerer Leistung und die Beschleunigung des Ein- und Aussteigens an den
Haltestellen durch geeignete Bauart der Wagen.
Der bei den Straßenbahntriebwagen auch heute noch in der bei weitem überwiegenden
Mehrzahl gebrauchte Antriebsmotor ist der Tatzenlagermotor, der einseitig mit
zwei Tatzen auf der zugehörigen, über ein Stirnräderpaar angetriebenen Achse ruht,
andrerseits federnd am Wagengestell aufgehängt ist. Durch diese seine Anordnung
unterliegt der Tatzenlagermotor erheblichen räumlichen Beschränkungen, auf die hier
nicht erschöpfend eingegangen werden kann. Es sei nur hervorgehoben: die achsiale
Länge des Motors ist durch den Raum zwischen den Rädern abzüglich des Platzes für
die Zahnräder bestimmt; diese Beschränkung der achsialen Motorlänge wirkt wiederum
auf die Bemessung des Motordurchmessers ein, der seinerseits die Wahl des
Triebraddurchmessers beeinflußt. Ferner wird die Auslegung des Motors durch die
Notwendigkeit eingeengt, einen gewissen Mindestabstand zwischen Motor und
Zahnradschutzkasten einerseits und Schienenoberkante andrerseits innezuhalten.
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Abb. 2.Schraubenradgetriebe zu dem Motor der Abb. 1.
Es galt also, unter Beibehaltung der äußeren Abmessungen die Leistung der Bahnmotoren
zu steigern, oder unter Beibehaltung der Leistung die Abmessungen herabzusetzen.
Hierbei ist jedoch nicht die Dauerleistung, sondern mit Rücksicht auf die Eigenart
des Bahnbetriebes, bei dem starke Belastungen beim Anfahren mit stromlosen
Zeitabschnitten in rascher Folge abwechseln, die Stundenleistung zugrunde zu legen,
d.h. die Leistung, die der Motor eine Stunde lang ohne Ueberschreitung der
zulässigen Erwärmungsgrenzen abgeben kann. Diese Leistungssteigerung beim
Tatzenmotor wurde erreicht durch Erhöhung der Drehzahl, schärfste Auslegung des
Motors beim Entwurf, um so dicht wie möglich an die zulässigen Erwärmungsgrenzen
heranzugehen, sowie durch Selbstlüftung der Motoren im Gegensatz zu der früheren
völlig gekapselten Bauart. Für die Entwicklung war auch die Verwendung von
Rollenlagern von Bedeutung, da nur diese den hohen Drehzahlen und Lagerdrücken
gegenüber die nötige Betriebssicherheit aufweisen – zudem bringen sie auch noch
erhebliche Ersparnisse an Wartungskosten und Schmiermaterial.
Textabbildung Bd. 344, S. 194
Abb. 3.Leichtgewichtsmotor mit Zangenbremse.
Im neuzeitlichen Bahnbetrieb werden heute gelüftete Motoren mit hoher Drehzahl –
„Leichtgewichtsmotoren“ – in steigendem Maße verwendet. Die
Gewichtsersparnisse sind bedeutend, wie die nachstehende Uebersicht erkennen läßt,
die für einige in den betreffenden Baujahren typische Motoren der AEG aufgestellt
ist.vgl. H. Mecke, AEG-Mitteilungen 1926, Heft 7.
Baujahr
Stundenleistungund Drezahl
Gewicht des Motorsmit
Zubehorkg
Gehäusebauhöhemm
U/min
kg
1901
39
585
1475
664
1911
39
560
1180
594
1928
40
820
910
466
Der in dieser Uebersicht an dritter Stelle genannte Motor (Abb. 1) ist für die Berliner Verkehrs-Gesellschaft entwickelt worden, wo
er für die neuen Dreiwagenzüge mit je zwei Motoren in Anwendung kommen wird. Er ist
mit Schraubenrädern (Abb. 2) mit einem
Schrägungswinkel von 6° 17' und 12/59 Zähnen bei 7 π Normalteilung ausgerüstet. Die
Ritzel sind aus Chromnickelstahl, die großen Zahnräder aus im Gesenk geschlagenen
Elektrosonderstahl gefertigt. Die Zahnflanken werden im Einsatzverfahren
gehärtet.
Der Motor ist mit einer Zangenbremse als Getriebebremse ausgerüstet (Abb. 3), wobei die Bremstrommel auf der Kollektorseite
der Motorwelle angeordnet ist. Der Vorteil der Getriebebremse liegt darin, daß eine
gleichmäßige Reibungsziffer zwischen Bremsscheibe und Bremsbelag erreicht wird, weil
die Angriffsstellen der Bremsbacken besser als bei den auf die Radreifen wirkenden
Bremsklötzen gegen Schmutz und Nässe geschützt sind.
Neben dieser Weiterentwicklung des altbewährten Tatzenlagermotors hat man auch
davon abweichende Antriebsarten vorgeschlagen; der wichtigste Vorschlag in dieser
Richtung betrifft die Verwendung von Motoren, die mittelst Kardanwellen die Achsen
antreiben. Hierbei ist der Motor am Wagenrahmen vollkommen gefedert aufgehängt. Er
wird daher im Gegensatz zu dem nur halb abgefederten Tatzenlagermotor in allen
seinen Teilen vor unmittelbaren Stößen bei Unebenheiten im Gleis bewahrt,
andrerseits wird auch das Gleis geschont.
Infolge der bei dem Kardanantrieb vorhandenen Trennung von Motor und Getriebe können
die Zahnräder in einem auf der Triebachse gelagerten Stahlgußgehäuse untergebracht
werden, dessen vollkommene Abdichtung gegen das Eindringen von Schmutz und
Spritzwasser leicht erreichbar ist. Die Trennung von Motor und Getriebe macht es
auch möglich, eine größere Uebersetzung einzubauen und dadurch schnellaufende,
leichte Motoren zu verwenden sowie auch den Durchmesser des Triebrades bedeutend zu
verringern, wodurch wieder die Uebersetzung des Achsvorgeleges günstig beeinflußt
wird.
Als Platz für die Anordnung des Motors, dessen Welle stets in der Richtung der
Wagenlängsachse liegt, kommt der Raum an den überhängenden Wagenenden sowohl wie der
Raum zwischen den Triebachsen in Frage. Letztere Anordnung hat derl Vorteil, daß bei
Fahrt auf gerader Strecke keine Schlingerbewegungen auftreten, und daß sich die beim
Kurvenfahren auftretenden Massenkräfte nicht in schädlicher Weise auf die
Triebachsen auswirken können. Bei Anordnung nur eines Motors, der dann mit einer
durchgehenden Ankerwelle versehen ist, bestehen folgende Möglichkeiten: Der Motor
arbeitet unmittelbar mit je einer Kardanwelle auf das Kegelradgetriebe der vorderen
und der hinteren Triebachse; der Motor arbeitet über je ein Zahnräderpaar auf die
Kardanwelle, die am Motor vorbei zu der entgegengesetzten Triebachse führt und an
diesem Ende das Kegelradgetriebe trägt; der Motor arbeitet unmittelbar mit je einer
Kardanwelle auf das Kegelradgetriebe, das jedoch nicht unmittelbar, sondern über ein
Stirnradvorgelege an den Triebachsen angreift. Die letztgenannte Anordnung läßt sich
auch mit zwei getrennten Motoren ausführen, wobei die Motoren zu beiden Seiten der
Wagenlängsachse gegeneinander versetzt angeordnet sind und jeder Motor auf die
entfernt liegende Triebachse arbeitet (Abb. 4).
Textabbildung Bd. 344, S. 194
Abb. 4.Wagengestell mit zweimotorigem Kardanantrieb.
Der Vorteil der einmotorigen Kardanbauart liegt in den geringen Anschaffungskosten
und der einfachen Konstruktion; sie läßt sich jedoch nur bei größerem Radstand des
Triebwagens verwenden, da die Kardanwelle eine gewisse Länge nicht unterschreiten darf. Ein Nachteil
dieser Anordnung ist das Fehlen einer Reserve bei Schäden an dem Motor und das
Fortfallen des sonst bei Straßenbahnen üblichen Reihen-Parallel-Schaltens. Wofern
jedoch zwei Triebwagen dauernd zu einer Einheit gekuppelt sind
(„Zwillingswagen“), kann jeder mit nur einem Motor ausgerüstet werden,
ohne daß die genannten Nachteile eintreten können.
Als Kardangelenke werden bis zu gewissen Kräften und Winkelneigungen die bekannten
Hardy-Scheiben verwendet, die aus bestem Gummigewebe bestehen, darüber hinaus
gekapselte Universalgelenke.
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Abb. 5.Nockenfahrschalter.
Obwohl die Erfahrungen mit einer größeren Anzahl von Kardanantrieben nun schon einige
Jahre zurückreichen, kann jedoch bei den zahlreichen Gesichtspunkten, die für einen
Straßenbahnantrieb von Bedeutung sind, ein abschließendes Urteil noch nicht gegeben
werden. Zweifellos hat sich der Kardanantrieb bewährt. Ob er aber darüber hinaus dem
Tatzenlagermotor an vielseitiger Verwendbarkeit, Billigkeit und Zuverlässigkeit
gleichkommt oder ihn gar übertrifft, kann erst nach noch wesentlich größerer
Betriebsdauer entschieden werden.
Es sei in diesem Zusammenhange noch darauf hingewiesen, daß man auch in Amerika dem
Kardanantrieb Beachtung geschenkt und ihn auch als „Einzelradantrieb“
ausgeführt hat. Hierbei erfolgt der Antrieb eines jeden Rades der gleichen Achse für
sich, und zwar entweder durch je einen besonderen Motor oder durch einen Motor für
die beiden Räder einer Wagenlängsseite gemeinsam.
Außer auf dem Gebiet des Antriebes machen sich auch neue Bestrebungen hinsichtlich
der Fahrschalterbauart bemerkbar. Bei den seit 30 Jahren in kaum veränderter Form
gebräuchlichen Fahrschaltern der Schleifring- oder Walzenbauart werden die
elektrischen Verbindungen durch feststehende Kontaktfinger und drehbare
Kontaktsegmente hergestellt, die je nach der Fahrschalterstellung miteinander in
Berührung stehen oder voneinander getrennt sind. Da die Kontaktfinger zur Erzielung
eines genügenden Kontaktes mit einem gewissen Anpressungsdruck auf den
Kontaktsegmenten schleifen, sind beide Teile einer entsprechenden Abnutzung
unterworfen, die man durch tägliche Schmierung in gewissen Grenzen zu halten
versucht. Dem Bestreben nach Fortfall dieser täglichen Unterhaltungsarbeiten
entspricht der Wunsch nach einem Fahrschalter, bei dem jede Reibung zwischen den
Kontaktflächen vermieden ist. Derartige Steuerschalter sind seit längerem in der
Form von Nockenschaltern für elektrische Lokomotiven und Triebwagen, z.B. bei den
Triebwagen der Berliner Stadtbahnvgl. Dinglers Polytechnisches Journal, Oktoberheft 1928., bekannt,
wo sie sich gut bewährt haben. Bei Straßenbahnfahrschaltern ließ sich das gleiche
Steuerungsprinzip nur unter Ueberwindung einer Reihe von konstruktiven
Schwierigkeiten einführen, da die neuen Schalter in ihrer Bauhöhe und sonstigen
Abmessungen mit Rücksicht auf die Bauart der vorhandenen Fahrzeuge nur unwesentlich
von den vorhandenen Schleifringfahrschaltern abweichen durften.
Abb. 5 zeigt ein solchen neuen, von der AEG.
entwickelten Nockenfahrschalter. Er besitzt an Stelle eines jeden Kontaktfingers der
Hauptschaltwalze einen Nockenschalter, der aus zwei Kontakten, einem festen und
einem beweglichen besteht. Zur Unterdrückung der Funkenbildung trägt der
feststehende Kontakt eine Blasspule, in deren Blasfeld die Kontakte angeordnet sind.
Der bewegliche Kontakt sitzt an dem einen Ende eines zweiarmigen Hebels, der durch
eine Druckfeder gegen den feststehenden Kontakt gedrückt wird. Das andere Ende
dieses Hebels trägt eine Rolle. Die Hauptwalze besitzt eine der Zahl der
Kontaktpaare entsprechende Anzahl von Nockenscheiben, die auf die Rollen der
zweiarmigen Hebel drücken und dadurch mittelbar die Kontakte voneinander trennen.
Die Anordnung der Nocken ist also durch die Schaltstellungen bestimmt, in denen die
Kontakte offen sein sollen; nur das Schließen erfolgt durch die Federn. Diese
Ausbildung ist getroffen, um etwa leicht klebengebliebene Kontakte zwangsläufig in
die Offenstellung zu bringen. Die Fahrtrichtungswalze ist, da sie stromlos schaltet
und nur selten bedient wird wie bisher als Schleifringwalze mit Kontaktfingern
ausgebildet.
Textabbildung Bd. 344, S. 195
Abb. 6.Schaltung eines Leistungsunterbrechers.
Nockenfahrschalter der verschiedenen Baufirmen finden sich seit längerem bei einer
Reihe von Straßenbahnen in Betrieb. Sie haben durchweg voll befriedigt, so daß sie
möglicherweise den Schleifringfahrschalter verdrängen werden.
Die Schonung des Fahrschalters und die damit erzielbare Verringerung der
Unterhaltungskosten hat auch die in Abb. 6 angegebene Schaltung
zum Ziel. Sie bezweckt, die erhebliche Leistungsunterbrechung beim Abschalten der
Motoren nicht mehr an den Kontakten des Fahrschalters, sondern durch Einbau eines
besonderen Leistungsunterbrechers an diesem vorzunehmen. Gemäß Abb. 6, in der 1 die Verbindung zum Fahrschalter, 2
den Steuerstromwiderstand, 3 den Steuerstromkontakt, 5 die Fahrleitung und 7 das
Schütz kennzeichnet, wird der aus einem oder zwei elektromagnetischen Schützen
bestehende Leistungsunterbrecher zwischen Stromabnehmer und Fahrschalter gelegt.
Dieser ist mit Hilfskontakten für Steuerstrom ausgerüstet, durch die bei Beginn der
Kurbeldrehung der Leistungsunterbrecher eingeschaltet, bei geringem Rückwärtsdrehen
aus jeder Kontaktstellung ausgeschaltet wird, so daß Unterbrechungslichtbögen und
Funkenbildung im Fahrschalter völlig vermieden sind. Beim Einschalten infolge der
ersten Bewegung der Fahrschalterkurbel schließt das Schütz einen Selbsthaltekontakt,
der den Stromkreis der Zugspule des Schützes solange geschlossen hält, bis die
Fahrschalterkurbel aus irgendeiner Stellung nach rückwärts gedreht wird; dann fällt
das Schütz wieder ab und unterbricht den Motorstromkreis.
Textabbildung Bd. 344, S. 196
Abb. 7.Elektromagnetisches Schutz. (Vorderansicht.)
Die Abb. 7 und 8
stellen das Leistungsunterbrecherschütz in Vorder- und Rückansicht dar. Da es auch
beim Ausbleiben der Fahrleitungsspannung abfällt, so wirkt es gleichzeitig als
Nullspannungsschütz. Ferner kann es mit einem Höchststromauslöser so verbunden
werden, daß es das Amt des selbsttätigen Wagenschalters übernimmt. Bei dieser
Anordnung kann man auf jeder Plattform einen Druckknopfschalter anbringen, um auch
von der hinteren Plattform aus die Unterbrechung des Motorstromkreises mittels des
Leistungsschützes zu bewirken.
Schließlich sei im Rahmen der Verbesserungen der elektrischen Straßenbahnausrüstung
noch die in Abb. 9 dargestellte Schaltung einer
Starkstromschienenbremsung erwähnt. Bekanntlich haben Schienenbremsen gegenüber
anderen elektromagnetischen Bremsen den Vorteil, daß sie vermöge ihrer unmittelbaren
Einwirkung auf die Schienen von der Reibung zwischen Rad und Schiene unabhängig
sind, also die Wagenräder nicht stillsetzen und dadurch deren Gleiten auf den
Schienen hervorrufen können. Aehnlich wie die vielfach verwendeten Solenoidbremsen
der Beiwagen werden die elektromagnetischen Schienenbremsen in den Bremsstromkreis
geschaltet, so daß sie durch den Bremsstrom der Motoren erregt werden. Sinkt bei der
fast ausschließlich verwendeten Kurzschlußbremsung dieser Strom unter einen
gewissen Wert, also kurz vor Erreichen des Stillstands der Motoren, so können die
Schienenbremsen den Wagen, ebenso wie etwa beim Halt im Gefälle, nicht anhalten.
Diesem Nachteil läßt sich begegnen durch Anordnung einer zusätzlichen
Erregerwicklung in den Schienenbremsen, die in der letzten Bremsstellung von der
Fahrleitung mit Strom beschickt wird. Eine solche Zweiwicklungsanordnung bringt
jedoch gewisse bauliche und betriebliche Schwierigkeiten mit sich. Die Anordnung von
zwei Wicklungen wird durch die in Abb. 9
dargestellte, von der AEG entwickelte und ihr durch Patent geschützte Schaltung
vermieden. Hier arbeitet der Kurzschlußstrom der Motoren auf die an Erde liegenden
Schienenbremsen und auf die Widerstände R1 bis R7 (in der Schaltstellung der Abbildung auf die
Widerstände R5 bis R7). R7 ist ebenfalls bei Bremsung geerdet.
In der letzten Bremsstellung wird außerdem der Frischstrom bei einem Punkt Rx zugeführt. Der Frischstrom läuft über den
Widerstand Rx bis R5, von wo ein Theil über R7 unmittelbar zur
Erde fließt, während der zweite Theil über die Motoren und Schienenbremsen geerdet
ist. Der Frischstrom durchläuft die Anker der Motoren und erzeugt dabei ein
rückwirkendes Drehmoment, das die Bremsung unterstützt; auch in den Schienenbremsen
wirken natürlich Kurzschlußstrom und Frischstrom im gleichen Sinne. Die
Schienenbremsen der Beiwagen besitzen ebenfalls nur eine Wicklung und werden ebenso
wie die des Triebwagens von Kurzschlußstrom und Frischstrom durchflössen. Die
Triebwagen müssen mit Bremskupplungen versehen sein, die sich selbsttätig schließen
und damit beim alleinfahrenden Triebwagen den Stromkreis für die Kurzschluß- und
Frischstrombremse herstellen. Dagegen dürfen sich die Kupplungen der Anhänger nicht
selbsttätig schließen.
Textabbildung Bd. 344, S. 196
Abb. 8.Elektromagnetisches Schütz.(Rückansicht.)
Außer den Verbesserungen an der elektrischen Ausrüstung sind in den letzten Jahren
auch zahlreiche grundlegende Abänderungen am wagenbaulichen Theil der
Straßenbahnfahrzeuge vorgenommen worden. Es wurde oben schon erwähnt, daß das Ein-
und Aussteigen der Fahrgäste nach Möglichkeit beschleunigt werden muß. Man hat
daher, um den Weg der Fahrgäste im Inneren des Wagens abzukürzen, neuerdings
vielfach Wagen mit Mitteleinstieg ausgeführt. Diese Anordnung ermöglicht es auch,
die Plattform am Eingang abzusenken.. Bei den so entstandenen Niederflurwagen werden
an Stelle der früher vorhandenen drei Trittstufen (eine an der Innentür, zwei an der
Straße) nur noch] zwei angeordnet, eine Maßnahme, die außer zur Verbesserung der
Verkehrsabwicklung an den Haltestellen auch der Bequemlichkeit der Fahrgäste dient, der man
ferner durch gute Innenausstattung, wie breite, gepolsterte Sitzbänke, große
Fenster, die geöffnet werden können, gute Beleuchtung, elektrische Beheizung usw.
Rechnung trägt. Abb. 10 zeigt einen neuzeitlichen
zweiachsigen Niederflur-Anhängewagen mit Mitteleinstieg und halbhohen Schiebetüren,
der von der Waggonfabrik Christoph & Unmack für die Große Leipziger Straßenbahn
geliefert wurde. Bei diesem Wagen, der bei 10900 mm Kastenlänge und 2126 mm
Kastenbreite einen Radstand von 3600 mm hat, liegt der Fußboden des Mittelflurs nur
350 mm über Schienenoberkante.
Textabbildung Bd. 344, S. 197
Abb. 9.Schaltung für Starkstrom-Schienenbremsung.
An Stelle des früher üblichen Betriebs mit Trieb- und Beiwagen haben verschiedentlich
auch Züge aus zwei gekuppelten Motorwagen Verwendung gefunden. Bei diesen
„Zwillingswagen“ wie sie auch die Berliner Straßenbahn in einigen
Exemplaren eingeführt hat, wird das Gewicht des ganzen Zuges als Reibungsgewicht
ausgenutzt, wodurch eine höhere Anfahrbeschleunigung erzielt wird. Die
Zwillingswagen werden ebenfalls mit Mitteleinstieg ausgerüstet.
Vielfach werden auch, vorwiegend im Vorortverkehr, zwei Triebwagen mit einem
dazwischen gekuppelten Beiwagen benutzt. Hierbei werden die Triebwagen ebenso wie
beim Zwillingswagen mit einer Zwei-Wagensteuerung ausgerüstet, die das Steuern
beider Triebwagen von dem jeweils vorderen Führerstand aus gestattet.
Eine besondere Bauart der neuzeitlichen Straßenbahntriebwagen sind die in Amerika
vielfach, neuerdings auch in Deutschland verwendeten Gelenkwagenzüge, bei denen das
Gelenk gleichzeitig als Durchgang zwischen den beiden Wagenhälften ausgebildet ist.
In Amerika, z.B. in Cleveland und in Montreal, hat man an den beiden äußeren Enden
des Gelenkwagens je eine Triebachse vorgesehen, während in der Mitte die beiden
Wagenkästen auf einem gemeinsamen Drehgestell ruhen, das in der Regel keine Motoren
besitzt. Aehnlich ist ein Gelenkdoppelwagen, der 1926 für die Duisburger Straßenbahn
gebaut wurde. Dieser besitzt drei Drehgestelle, von denen das mittlere (Bauart
Jacobs) als Auflagefläche für die beiden Wagenkästen dient. Der etwa 100 Personen
fassende Wagen ist 20550 mm lang und wird durch zwei Motoren, von denen je einer in
den äußeren Drehgestellen sitzt, angetrieben.
Ferner wurden in Deutschland noch zwei andere Gelenkwagen-Bauarten ohne
gemeinsames mittleres Drehgestell entwickelt. Abb. 11
zeigt einen solchen, von Christoph & Unmack für die Straßenbahn Dresden gebauten
Durchgangsgelenkwagenzug. Der Wagenkasten dieses Zuges besteht aus drei Teilen, die
durch einen Faltenbalg-Durchgang miteinander verbunden sind. Der erste und letzte
Wagenteil sind als gewöhnliche zweiachsige Wagen ausgebildet, zwischen denen der
Mittelteil von etwa 4 m Länge gelenkig schwebend aufgehängt ist. Die Länge des
ganzen Zuges beträgt rund 23200 mm, sein Gewicht 29000 kg, das Fassungsvermögen 117
Sitz- und Stehplätze. Jede der 4 Achsen wird durch einen Motor von 33 kW bei 800
Umdr./min angetrieben. Abb. 12 gibt einen Blick durch
das Innere dieses Gelenkwagenzuges, dessen Fußboden auf die ganze Zuglänge ohne
Stufe in 700 mm Höhe über Schienenoberkante durchgeführt ist.
Textabbildung Bd. 344, S. 197
Abb. 10.Niederflur-Anhängewagen mit Mitteleinstieg
Des weiteren befindet sich, ebenfalls seit November 1928, bei der Dresdener
Straßenbahn ein Gelenkwagenzug im Betrieb, der von der Waggon- und Maschinenbau AG.
(Wumag) entworfen ist. Bei diesem ist der mittlere Teil als zweiachsiger Wagen
ausgebildet; der erste und letzte Wagenteil besitzen an ihrem äußeren Ende eine
Achse, während sie sich mit dem inneren Ende gelenkig auf den mittleren Wagenteil
stützen. Der Wagenzug ist 24200 mm lang bei gleichem Fassungsvermögen und gleichem
Gewicht wie der vorgenannte Wagenzug. Der Antrieb erfolgt durch 4 Motoren von je 38
kW bei 850 Umdr./min. Bei beiden Bauarten besitzt der mittlere Wagenteil eine große
Doppeltür, die als Ausgang und Eingang dient. An den beiden Zugenden ist ein mit
einer Schiebetür versehener Zugang vorgesehen.
Textabbildung Bd. 344, S. 197
Abb. 11.Durchgangs-Gelenkwagen Zug.
Der betriebliche Vorteil des Gelenkwagenzuges liegt in der Schaffung einer
festen Zugeinheit von mäßiger Länge, aber großem Fassungsraum, die infolge des
Antriebes meist aller Achsen schnell anfahren kann, die durch nur einen Schaffner
bedient wird, und die bei Ausrüstung mit einem Führerstand an jedem Wagenende auch
ohne Schleifengleise schnell wenden kann. Nach Berichten aus Amerika, wo man mit
Gelenkwagenzügen größere Erfahrung besitzt, sind auch im Stromverbrauch nicht
unerhebliche Ersparnisse möglich, z.B. verbraucht nach Berichten aus Montreal der
Gelenkwagenzug etwa 30 v. H. weniger Strom als der normale Triebwagenzug gleichen
Fassungsvermögens.
Textabbildung Bd. 344, S. 198
Abb. 12.Innenansicht zu dem Zug Abb. 11.
In Detroit wurde auch ein Dreiwagen-Gelenkzug erprobt, bei dem an beiden Gelenken ein
für den Mittel- und den Außenteil gemeinsames Drehgestell sowie an den Enden der
Außenteile noch je ein Einzeldrehgestell vorgesehen ist. Dieser Wagen hat bei einer
Länge von 37400 mm ein Fassungsvermögen von 140 Personen. Er wird durch vier Motoren
von je 60 PS angetrieben und wiegt 37400 kg.
In diesem Zusammenhange sind auch die beiden Doppeldeckwagen erwähnenswert, die 1927
in London in Betrieb gestellt wurden. Wie weit sich diese Wagen in Zukunft
durchsetzen werden, wird abzuwarten sein. Größere Aussicht auf Einführung hat
anscheinend der Durchgangsgelenkwagenzug, den auch die Berliner Straßenbahn
einzuführen beabsichtigt. In der Hauptsache hat man sich vorerst, und zwar mit
Erfolg, bemüht, die Wagen der überlieferten Bauart zu verbessern. Wie auch im
Eisenbahn-Waggonbau hat man das Holzgerippe des Wagenkastens durch ein Stahlgerippe
ersetzt. In Amerika wird in erheblichem Maße Leichtmetall verwendet, um das tote
Wagengewicht herabzusetzen, z.B. wurde bei einem Leichtmetallwagen in Cleveland eine
Gewichtsherabsetzung gegenüber der Eisenbauart von 19643 auf 13707 kg, d.h. von rund
30 v. H. erzielt. In Deutschland hat man Leichtmetallgerippe bisher nur vereinzelt
ausgeführt. Beispielsweise erstellte die Waggonfabrik Christoph & Unmack für die
Berliner Straßenbahn Beiwagen mit Kastengerippe aus Lautal und Silumin.
Besondere Aufmerksamkeit hat man der Ausbildung des Laufwerkes geschenkt. Während
früher vielfach Drehgestelle benutzt wurden, verwendet man neuerdings soweit irgend
möglich zweiachsige Untergestelle mit festen Achsen, die den Vorteil geringeren
Gewichtes sowie infolge der geringeren Räderzahl auch verminderter
Unterhaltungsarbeiten aufweisen. Bei der Berliner Straßenbahn, bei der die Gleise
verhältnismäßig nah beieinander liegen und viele Krümmungen kleinen Halbmessers
aufweisen, befinden sich in größerer Anzahl zweiachsige Wagen von 10400 mm Länge und
2800 mm Radstand in Betrieb, die bei 64 Sitz- und Stehplätzen ein Gewicht von nur
11200 kg besitzen. Die Breite des Wagenkastens beträgt 2200 mm, jedoch sind die
Plattformen, die hier, wie neuerdings durchweg, geschlossen ausgeführt wird, wegen
des Kurvenlaufes auf 1668 mm verjüngt.
Im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes war es natürlich nicht möglich, die lebhaften
Fortschritte, die auf dem Gebiet des elektrischen Straßenbahnwesens in den letzten
Jahren zu verzeichnen sind, erschöpfend zu behandeln. Die wenigen Beispiele, die
hinsichtlich der neuesten Entwicklung gegeben werden konnten, lassen aber erkennen,
daß zur Zeit in den verschiedensten Zweigen des elektrischen Straßenbahnwesens
wichtige Neuerungen erprobt werden.