Titel: | Eine neue Groß-Industrie. |
Autor: | Fr. W. Landgraeber |
Fundstelle: | Band 345, Jahrgang 1930, S. 86 |
Download: | XML |
Eine neue Groß-Industrie.
(Herstellung von Zechenstickstoff.)
Vor Fr. W. Landgraeber.
LANDGRAEBER, Eine neue Großindustrie.
Der Verbrauch an Reinstickstoff in Deutschland stieg von 185000000 kg im Jahre
1913 auf 435000000 kg im Düngejahr 1928/1929. Von jener Menge entfielen 280000000 kg
auf Zechenstickstoff aus Hochofen- und Kokereigasen. Jene Gase enthalten 50%
Wasserstoff, 13 % Stickstoff, 25% Methan, 7,5% Kohlenoxyd, ferner Aethylen,
Propylen, Sauerstoff, Aethan, Propan, Butan und Azetylen. Einst ließ man diese
wertvollen Stoffe unausgenutzt in die Luft entweichen. Der sonst so fortschrittliche
Ruhrbergbau hat es jahrzehntelang versäumt, sich diese ergiebige Einnahmequelle
zunutze zu machen. Heute ist es anders geworden. Der Steinkohlenbergbau erzielt
seinen Verdienst nicht mehr aus dem Verkauf von Kohlen wie früher, ja nicht einmal
mehr aus den Erlösen für Koks, wie es eine Zeit lang der Fall war, sondern in erster
Linie aus dem Gas der Kokereien bzw. den aus ihm hergestellten Produkten wie
Ammoniak, Teer, Benzol, Stickstoff u.a.m. Jeder Zeche sind heute, soweit die dafür
erforderlichen Kohlensorten vorhanden sind, eine sog. Chemische Zeche angegliedert.
Ihre Gebäude überragen in vielen Fällen diejenigen der reinen Explotation um ein
bedeutendes. Mehrere von ihnen verfügen bereits über eine Anlage zur Erzeugung von
Zechenstickstoff. Im Ganzen verfügen die bisher bestehenden Stickstoffanlagen im
Ruhrbergbau über eine Kapazität von 80000000 kg synthetischen Stickstoffs. Die auf
der Zeche Mont Cenis errichtete Anlage (Hibernia-Mont-Cenis) leistet 28000000
Kilogramm, die der Schwesterfabrik auf der Schachtanlage Shamrock hat eine Kapazität
von 22000000 kg. Die Ruhrchemie A.G., an der fast alle größeren Bergwerksunternehmen
des Ruhrgebietes beteiligt sind, und die über mehr als 70% der Koks-Gaserzeugung, d.
s. etwa 10 Milliarden Kubikmeter, jenes Gebietes verfügt, nimmt demnächst eine
Fabrik mit einer Leistung von vorerst 18000000 kg in Betrieb, die aber durch
Erweiterungen bald auf eine Kapazität von 35000000 kg im Jahre gebracht werden soll.
Die Leistungsfähigkeit der Stickstoffzeche Viktor in Rauxel dürfte auf etwa 12000000
kg zu veranschlagen sein. Die im Bau begriffene Stickstoffabrik der Gewerkschaft
Ewald soll 20000000 kg jährlich erzeugen, und diejenige auf der staatlichen Anlage
Scholven 40000000. Mit der von dem Gelsenkirchener Bergwerks-A.G. geplanten Anlage
dürfte die Leistungsfähigkeit aller Stickstoffzechen im Ruhrgebiet bereits eine
Steigerung auf rd. 200000000 kg erreichen.
Alle bisher in Anwendung stehenden Verfahren der Ammoniaksynthese arbeiten im Prinzip
nach der Methode Haber-Bosch. Beim Verfahren von Claude werden 1000 at, von Casale
750, und von Mont-Cenis 100 at angewandt.
Die neueste Stickstoffzeche der Ruhrchemie-A.-G., auch das „Leuna-Werk des
Ruhrgebietes“ genannt, verarbeitet arbeitstäglich 300000 cbm
Kokereigas. Ihr 70 m hoher Gas-Speicher faßt 65000 cbm. Zunächst wird das Gas
von Schwefelwasserstoff befreit. Dann gelangt es in 25000 Kubikmeter fassende
Behälter. Ihr Vorrat reicht für vier Stunden. Gleichzeitig sollen hier
Ungleichmäßigkeiten in der Zusammensetzung des Gases ausgeglichen werden. Mittels
Kompressoren wird es alsdann auf 12 at gepreßt. In diesem Zustande erfährt es in
Gas-Spaltanlagen eine Befreiung von Kohlensäure, Kohlenwasserstoff, Methan,
Kohlendioxyd usw. durch stufenweise Verflüssigung nach dem Linde'schen Verfahren?
Schließlich bleibt ein Gemenge von Stickstoff- und Wasserstoffgasen übrig, die das
Ausgangsmaterial, die Fertigfabrikate der Ruhrchemie A.G. bilden. Durch eine
Kombination des Konkordia-Linde-Verfahrens zur Gewinnung eines
Wasserstoff-Stickstoffgemisches aus Zechengas und des Casale-Verfahrens wird dort
synthetisches Ammoniak sog. Zechenstickstoff hergestellt.
Das Gemisch strömt aus der Spaltanlage der synthetischen Anlage zu. Hier wird es
durch Hochdruckkompressoren auf 700-800 at gepreßt. Unter diesem gewaltigen Druck
wird das Gemisch in synthetischen Röhren bei erhöhter Temperatur über Platinschwamm
geleitet und in Ammoniak umgesetzt. Dieses wird entweder als flüssiges Ammoniak
unmittelbar in Spezialwagen versandt oder auf Düngesalze weiter verarbeitet. Etwa
fünfzig Prozent der Ammoniakerzeugung dient zur Herstellung von Salpetersäure, aus
der durch Beimischung von flüssigem Ammoniak Ammonsalpeter fabriziert wird. Durch
Zusatz von Schwefelsäure, die ebenfalls aus Kokereigas gewonnen wird, wird das
restliche Ammoniak in Ammonsulfat verwandelt. Beide Salze geben durch Vermischung
den Zechenstickstoff.
Für die Herstellung von synthetischem Ammoniak ist noch ein anderes Verfahren – die
Zerlegung der Koksofengase durch Tiefenkühlung – erfunden. Hierbei werden nach dem
Erfinder Bronn, die Gase, nachdem ihnen die Nebenbestandteile in üblicherweise
entzogen worden sind, von ihrem Gehalt an Schwefelwasserstoff und
Schwefelkohlenstoff befreit, alsdann auf 10–30 at komprimiert und der Tiefenkühlung
unterworfen. Diese erfolgt in einem Bade, das von außen mit flüssigem Stickstoff
umgeben wird. Zur Gewinnung von 1 cbm Wasserstoff aus 2–2.2 cbm Koksofengas werden
nur 0,5 PS benötigt, einschließlich Gewinnung von Stickstoff aus der Luft nebst
dessen Verflüssigung. Gleichzeitig werden hierbei die restlichen Bestandteile der
Koksofengase wie Methan, Aethylen, Aethan und die Kohlenwasserstoffe in flüssigem
Zustande erhalten. Eine Apparate-Einheit von üblicher Größe verarbeitet in 24
Stunden 120000 cbm Koksgas. Da neuere Apparaturen volle 325 Tage im Jahre zu
arbeiten vermögen, können gegen 39000000 cbm hindurchgeschickt werden. Mit dem so
gewonnenen Stickstoff-Wasserstoff-Gemisch werden 7500000 Kilogramm verflüssigtes
Ammoniak bzw. 30000000 kg Ammonsulfat im Jahre hergestellt.
In der Neuanlage „Emil“ in Altenessen, die mit drei Ofenbatterien von je 39
Oefen täglich 1700000 kg Koks erzeugt, werden außer 27000 Kilogramm schwefelsaures
Ammoniak (Zechenstickstoff) 80000 kg Teer, 20000 kg Benzol und 400000 cbm
Ueberschußgas gewonnen.
Alle vorbenannten Anlagen für Zechenstickstoff sollen künftig erweitert werden. Die
Gewerkschaft Ewald in Herten wird eine neue Gewinnungsanlage bauen, die nach dem
Verfahren der Nitrogen Engeniering Corporation arbeiten soll. Andere Zechen und auch
die Gasanstalten wenden künftig der Gewinnung von Zechenstickstoff ihre ganze
Aufmerksamkeit zu, so daß nicht nur im Rührrevier, sondern auch in Europa wie in
Nordamerika mit einer weiteren starken Steigerung der Erzeugung von schwefelsaurem
Ammoniak zu rechnen ist. Das Bestreben der Erzeuger geht dahin, den Reinstickstoff
im Zechenstickstoff zu Preisen auf den Markt zu bringen, die einen Wettbewerb mit
den Erzeugnissen anderer Großindustrien wie dem Chilesalpeter und auch mit dem aus
der Luft gewonnenen Stickstoff aushalten. Auch Erdgas soll als Rohstoff für die
Stickstofferzeugung erprobt werden.