Titel: Die Schnellbahnwagen der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft in Berlin.
Fundstelle: Band 316, Jahrgang 1901, Miszellen, S. 627
Die Schnellbahnwagen der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft in Berlin. Auf dem Internationalen Ingenieurkongress in Glasgow hielt der Chefingenieur der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft, O. Lasche, im Beisein von vielen ersten Fachleuten der Eisenbahngesellschaften einen Vortrag über den nunmehr fertiggestellten und geprüften Schnellbahnwagen der A. E.-G. Der Hauptinhalt sei in folgendem kurz gegeben: Die Studiengesellschaft für elektrische Schnellbahnen hatte sich gebildet zu dem Zwecke, die technischen und wirtschaftlichen Bedingungen für den elektrischen Betrieb von Fernbahnen zu studieren. Der Probebetrieb mit dem Wagen der A. E.-G. für die Fernhahnversuche hat auf dem Versuchsstand in der Fabrik, soweit die Betriebsbedingungen auf einem Probierstand überhaupt festgestellt werden können, den angestrebten Leistungen entsprochen. Der Wagen wurde mit einer sekundlichen Umfangsgeschwindigkeit der Räder von etwa 56 m, entsprechend einer Fahrgeschwindigkeit von 200 bis 210 km stündlich geprüft und vor einigen Wochen auch dem technischen Ausschuss der Studiengesellschaft als fertig zur Ueberführung auf die Versuchsstrecke vorgeführt. 1. Die Versuchsstrecke. Als obere Grenze der Geschwindigkeit waren für die Versuche zunächst 200 km stündlich in Aussicht genommen worden. Auf Grund von sorgfältigen Erwägungen und von Gutachten erster Autoritäten wurde beschlossen, für die Versuchsfahrten eine vorhandene Strecke zu verwenden. Ausschlaggebend war hierbei, dass eine solche Versuchsstrecke seitens der Militärbehörde zur Verfügung gestellt werden konnte, und dass andererseits die Schaffung einer besonderen Versuchsstrecke einen unberechenbaren Aufwand an Zeit und Mehrkosten verursacht hätte. Die Strecke, auf welcher die Versuche demnächst beginnen werden, ist die Militärbahn Berlin-Zossen. Diese Strecke ist für die erforderlichen Studien hervorragend geeignet, weil sich die Versuche auf derselben auch auf die Verschiedenheit von Oberbau, Schienenprofil, Bettung und Stossverbindungen erstrecken können. Die vorliegende Veröffentlichung bezieht sich ausschliesslich auf Konstruktion und Prüfung des Wagens und auf die zur Schaffung desselben erforderlichen Vorstudien, Versuchsanordnungen und Versuche. Das andere Kapitel der Arbeiten, die Versuchsfahrten selbst auf der Strecke, soll jetzt beginnen. Sie sollen nach zwei völlig auseinander gehenden Richtungen hin Grundlagen für die praktischen Auswertungen schaffen. a) Die Durchführung von 80 bis 100 km stündlicher Fahrgeschwindigkeit. Es soll zuerst ermittelt werden, welche Geschwindigkeiten unter thunlichster Beibehaltung unserer heutigen Betriebseinrichtungen erreichbar sind, und um wieviel geringere Anforderungen ein Betrieb mit elektrischen Einzelwagen an den Oberbau und seine Instandhaltung stellt bei Geschwindigkeiten, wie sie heute bereits auf einigen der besten Strecken mit Dampflokomotivenerreicht werden. In vielen Fällen dürfte die elektrische Betriebskraft die Möglichkeit bieten, einen stark steigenden Verkehr unter Beibehaltung der vorhandenen Brücken und des vorhandenen Oberbaues zu bewältigen. Dem Publikum wäre mit Durchführung dieser Geschwindigkeiten schon gedient, wenigstens in gewisser Beziehung. Die Entfernungen würden in kürzerer Zeit zurückgelegt werden, man brauchte nicht erst auf lange Züge zu warten, welche täglich nur wenige Mal verkehren und, indem die Rauchbelästigung für die Reisenden in Fortfall käme, könnten ihnen manche Bequemlichkeiten bereitet werden. Nach dieser Richtung bietet die Konstruktion der Motorwagen keine Schwierigkeiten, und weder der Oberbau noch die bestehenden Einrichtungen des Betriebes und des Signalwesens würden wesentliche Neuerungen bedingen. Die Versuche werden für die Einführung und Wirtschaftlichkeit eines solchen Betriebes auf bestehenden Fernbahnlinien weitere Unterlagen bringen. Dass der Betrieb mit Elektrizität unter allen Umständen vor dem mit Dampf ökonomische Vorteile bieten muss, ist übrigens nicht unbedingtes Erfordernis. Es ist zwar anzunehmen, dass durch die Zentralisation der Krafterzeugung bei Verwendung bester Dampfkesselanlagen und Maschinen mit Vorwärmung und Ueberhitzung eine vorzügliche Ausnutzung des Brennstoffes erreicht werden kann, wie sie bei Dampflokomotiven ganz ausgeschlossen ist; ferner liegt in der Möglichkeit, weite Strecken von einer Zentrale aus mit hochgespanntem Drehstrom zu betreiben, der Vorteil, dass eine fast gleichmässige Beanspruchung der Maschinen erzielt werden kann; jedoch kann Gewissheit über diese Fragen eben nur durch die vorzunehmenden Versuche erlangt werden. In vielen Fällen dürfte es aber schon genügen, dass das Reisen durch die elektrische Kraft dem Publikum zur Annehmlichkeit wird und der Betrieb den modernen Anforderungen sich besser anpassen lässt. b) Das Erreichen von etwa 200 km stündlicher Geschwindigkeit. Der eigentliche Zweck der Versuche richtet sich auf das Anbahnen eines Schnelldienstes, und die Feststellung der höchsten zulässigen Geschwindigkeit dürfte gleichfalls das Ergebnis der eingehenden Studien sein. Für die angestrebten hohen Geschwindigkeiten müssen der Signaldienst im heutigen Sinne, die Wegeübergänge und Weichen entweder gänzlich in Fortfall kommen oder tief einschneidenden Aenderungen unterzogen werden; unerlässlich erscheint auch die Verlegung des Schnellverkehrs auf getrennte Geleise und besondere Bahnkörper, welche diesem ausschliesslich in der einen oder anderen Richtung dienen. Diesem Schnellbetrieb wäre gegenüber zu stellen der Lokal- und Güterbetrieb. Die hierfür erforderlichen Studien erstrecken sich auf die Motorfahrzeuge, den Oberbau und die ausreichende Sicherung des Betriebes. 2. Die Konstruktion des Motorwagens. Es kommen nicht Lokomotiven im gewöhnlichen Sinne, sondern Motorwagen zur Verwendung, welche für die unmittelbare Aufnahme von 50 Personen eingerichtet sind. Die Leistung der Motoren von 1000 PS kann bis auf 3000 PS gesteigert werden. Die Versuche werden ergeben, ob so kräftige Motoren erforderlich sind, und wie bei verschiedenen Geschwindigkeiten und den Einflüssen von Gegen- und Seitenwind der Stromverbrauch sich ändert. Entsprechend dem angestrebten Ziel – Bau und Betrieb von Fernbahnen – wurde Drehstrom in Aussicht genommen, nachdem durch die von der Gesellschaft angestellten Versuche der Nachweis geführt worden war, dass die Erzeugung und Fernleitung desselben mit Spannungen von mehr als 40000 Volt keine Schwierigkeiten mehr bietet. Für die vorliegende Strecke dürfte man sich indessen mit 12000 Volt begnügen, da die Entfernung von der zur Stromlieferung herangezogenen Drehstromzentrale der Berliner Elektrizitätswerke nur 12,5 km und die zu speisende Fahrdrahtstrecke nicht mehr als 24 km beträgt. Obwohl in der vorliegenden Ausführung aus Zweckmässigkeitsgründen Transformatoren zur Umformung der 12000 Volt auf 435 Volt in dem Fahrzeug selbst untergebracht worden sind, ist diese Anordnung nicht prinzipieller Natur; unter Umständen dürfte es zweckmässig sein, die Motoren statt mit Niederspannung mit einer mittleren Spannung von etwa 2000 Volt zu betreiben, in welchem Fall auch der Fahrdraht diese Spannung erhält. In geeigneten Entfernungen wären alsdann Transformatoren zur Umwandlung von 50000 auf 2000 Volt, welche im Gegensatz zu Gleichstromumformern weder Bedienung noch Instandhaltung erfordern, an der Strecke zu verteilen. An jedem Ende des Wagens befindet sich ein Stand für den Führer, damit dieser stets vom vorderen Ende des Fahrzeuges aus die Führung handhaben kann. Alle stromführenden Teile wurden in dem in der Mitte des Wagens belegenen Apparatraum untergebracht und durch doppelte, gut geerdete Blechwände gegen Personen- und Führerräume abgeschlossen. Die Gesamtlänge des Wagens, dessen Abmessungen im Normalprofil bleiben, beträgt 22 m. Der Wagenkasten wird von zwei kräftigen Drehgestellen mit je drei Achsen getragen. Die mittlere Achse jeden Drehgestelles dient nur als Laufachse, während die beiden äusseren Achsen je einen Motor von 250, maximal 750 PS tragen. Der Durchmesser der Räder beträgt 1250 mm, die Tourenzahl etwa 960 pro Minute. 3. Die Vorstudien für die Konstruktion des Motorwagens. Mit der Aufgabe, einen Motorwagen zum Zweck von Studien und Versuchen zu bauen, war dem Konstrukteur die willkommene Freiheit geboten, von Grund aus Neues zu schaffen und auf Althergebrachtes zu verzichten. Die vorliegende Ausführung stützt sich daher weder auf die bisherigen Konstruktionen von elektrischen Lokomotiven für geringere Geschwindigkeiten, noch auf solche von Vorort- und Strassenbahnwagen. Die Studien, welche der eigentlichen Durchführung der Konstruktionsarbeiten voranzugehen hatten, bezogen sich denn auch gerade auf jene Punkte, welche unterschiedlich hierzu bei elektrischen Fernbahnen und insbesondere bei solchen für höchste Geschwindigkeiten in Frage kommen. Die Gewichte der elektrischen Einrichtung glaubte man anfangs nicht unter 50 t für die verlangten Leistungen von 3000 PS max. herabmindern zu können. Durch neue Anordnung und besondere Konstruktion der wesentlichen Elemente wie der Transformatoren, Motoren und Anlassapparate gelang es jedoch, dieselben auf etwa 30 t zu ermässigen. Durch sorgfältige und reichliche Kühlung des magnetisch beanspruchten Eisens in den Transformatoren wurde das Gewicht auf 6,5 kg pro Kilo-Watt heruntergebracht. Die Motoren wurden entsprechend den neuen Konstruktionen der A. E.-G. für ortsfeste Dynamos und Motoren ohne gusseisernes Gehäuse ausgeführt und der Blechkranz als Rippenkörper ausgebildet, um so auch hier eine vollkommene Kühlung des Eisens zu erzielen. Eine weitere Frage von tiefeinschneidender Bedeutung war auch der Zusammenbau der Motoren mit den Radachsen; denn selbstverständlich waren Zwischenglieder wie Zahnräder oder Ketten mit ihrem Verschleiss und ihrer Unzuverlässigkeit von vornherein ausgeschlossen. Obschon man von Anfang an danach strebte, die Motoren abzufedern, mussten doch viele verschiedene Anordnungen durchstudiert werden. Bei den einen waren die Motoren hart, bei den anderen federnd auf der Achse oder am Radkörper montiert. Die Lösung des Problems einer abgefederten Aufhängung, ohne irgend welche Belastung der Achse bei 1000 Touren und 750 PS pro Motor war schwierig und verlangte eine scharfe Kritik der eigenen Entwürfe; sie gelang vermöge einer eigenartigen, federnden und gleitenden Kuppelung und durch eine abgefederte Aufhängung der Motoren, deren anfangs sehr weiche Bewegungen allmählich in eine steifere und steife Aufhängung übergehen. Diese Konstruktion setzte für die Motoren naturgemäss eine Hohlachse voraus, deren Umfangsgeschwindigkeit in den Lagern nahezu 15 m pro Sekunde beträgt. Ueber diese ungewöhnlichen Reibgeschwindigkeiten wurden eingehende Versuchsreihen bis zu 20 m pro Sekunde und bis zu sehr hohen Lagerdrücken aufgestellt. Waren Anlasser für Motoren von 250 und 750 PS Leistung auch früher schon mehrfach ausgeführt worden, so hatte man sie doch für die vierfache Stärke, für dauernde Belastung unddie Unterbringung in einem engen Raume nicht zu konstruieren brauchen; es wurde deshalb die Frage des üblichen Flüssigkeits- und des Metallanlassers eingehend behandelt. Ersterer erschien von vornherein unzulässig, da es ausgeschlossen war, dauernd Widerstand eingeschaltet zu lassen, also dauernd die Geschwindigkeit zu regulieren, weil die hierbei der Flüssigkeit zugeführte Wärme dieselbe sehr bald erhitzen und zum Kochen bringen würde. Bei den Metallanlassern erwies sich die unendliche Zahl von Kontakten, Bürsten, Verbindungskabeln und Paketwiderständen als sehr lästig und unübersichtlich. Für die vier Motoren mit je 750 PS Maximalleistung ergaben sich 12 Walzen, von denen jede mindestens 12 Kontaktstufen erhalten musste, und jeder Kontaktstufe entsprechen Verbindungskabel nach den Widerstandspaketen. Trotzdem bleiben die Unterschiede in den Stromstärken von Stufe zu Stufe noch sehr gross und die Regulierung grob. Dass der Verschleiss an den vielen Kontakten die Betriebssicherheit ungünstig beeinflusst, namentlich bei der geringen Uebersichtlichkeit des ganzen Apparates, ist neben dem grossen Gewicht ein schwerwiegender Uebelstand. Alle diese Nachteile wurden vermieden durch die Ausführung eines Anlassers, der sich besonders für die Beschleunigung und Verzögerung grosser Massen und die Regulierung ihrer Geschwindigkeit, unter anderem also auch für den Antrieb sehr grosser Fördermaschinen eignet. Als Widerstandsmaterial wird hier zwar auch Sodalösung verwandt, doch hat der Apparat mit den üblichen Konstruktionen der Flüssigkeitsanlasser nichts gemein, wie dies auch die im grössten Stil gemachten Versuche bewiesen haben. Die Elektrodenbleche stehen hier fest und hängen in einem Behälter, in welchen die Flüssigkeit durch eine ständig laufende Pumpe hineingeschafft wird. Der Behälter erhält ein Ventil im Boden, durch welches die Flüssigkeit abgelassen werden kann. Soll der Motor eingeschaltet werden, so wird das Ventil geschlossen und die Flüssigkeit beginnt zu steigen, die Eintauchfläche der Elektroden nimmt also allmählich zu, d.h. es wird Widerstand ausgeschaltet, und zwar kontinuierlich und nicht stossweise. Entsprechend der Verringerung des eingeschalteten Widerstandes nimmt die Tourenzahl des Motors zu. Durch Regulierung der Zuflussgeschwindigkeit kann das Ansteigen der Flüssigkeit im Behälter und somit die Anfahrzeit für den Motor reguliert und letzterer vor Ueberlastung geschützt werden. In dem Behälter ist ein Ueberlauf eingebaut, so dass die Flüssigkeit oben abfliesst, also an der Stelle, wo sie am wärmsten ist. Sie bleibt also stets in Bewegung, wodurch die Möglichkeit geboten ist, ihr die Wärme ständig abzuführen. Man kann daher dauernd Widerstand eingeschaltet lassen, d.h. dauernd mit kleinerer als der normalen Geschwindigkeit fahren. Der Ueberlauf in dem Behälter lässt sich einstellen, und da von der Höhe des Flüssigkeitsstandes die Grösse des eingeschalteten Widerstandes und damit die Tourenzahl der Motoren abhängt, so kann dies leicht eingestellt werden. Neben der äusserst einfachen Bedienung und grossen Betriebssicherheit dieses neuen Anlass- und Regulierapparates gibt dieser also den Vorteil, beliebig langsam anfahren und dauernd regulieren zu können, ohne dass eine Störung durch zu grosse Erwärmung eintreten könnte. Die Geschwindigkeit von 200 km pro Stunde machte neben der Westinghouse-Bremse mit den üblichen Reibbacken eine zweite elektrische Bremsung wünschenswert. Vorgenommene Versuche lehrten, wie diese Wirkung mit Hilfe des neuen Regulierapparates beliebig sanft oder energisch erreicht werden kann, sei es durch Gegenstrom, sei es durch Wirbelstrom unter Einschaltung einer besonderen Bremsbatterie. Noch nach vielen anderen Richtungen hin mussten Studien und Versuche angestellt werden, und schliesslich wurde es bei der Neuheit des Ganzen für erwünscht gehalten, eine Prüfung bei stillstehendem Wagen vornehmen zu können. Es wurde daher jedes Drehgestell auf Probeböcken mit Laufrollen in Betrieb gesetzt und hierbei die volle Geschwindigkeit erzielt. Wenn nun auch aus diesen Proben noch keine endgültigen Schlussfolgerungen gezogen werden können, so hegen wir nach dem Verlauf der den praktischen Bedingungen sich eng anschliessenden Versuche die zuversichtliche Erwartung, dass das Fahrzeug den an dasselbe gestellten hohen Anforderungen ganz entsprechen wird.